Выбрать главу

Marsh lehnte auf dem Kesseldeck an der Reling, dort wo es schattig und etwas kühler war, und schaute ihnen zu, wie sie sich mit den schweren Ballen abmühten, während Whitey die Kessel anheizte und für entsprechenden Dampfdruck sorgte. Durch Zufall entdeckte er auch noch etwas anderes: eine lange Schlange von Pferden gezogener Hotelwagen, die auf der Straße unweit der Landestelle warteten. Marsh beobachtete sie einen Moment lang neugierig, dann zupfte er sich an den Schnurrbartspitzen und kletterte zum Ruderhaus hinauf.

Der Lotse genehmigte sich gerade ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee. »Mister Kitch«, wandte Marsh sich an ihn, »legen Sie nicht ab, bevor ich es Ihnen sage.«

»Warum das, Cap’n? Sie ist fast beladen, und der Dampf hat den richtigen Druck.«

»Schauen Sie mal hinaus«, forderte Marsh ihn auf und hob seinen Stock. »Die Gefährte dort drüben bringen Passagiere zur Landestelle oder warten auf deren Ankunft. Nicht unsere Passagiere, und außerdem warten sie nicht auf irgendeinen Heckraddampfer, der zufällig einläuft. Ich habe da so eine Ahnung.«

Ein paar Augenblicke später bewahrheitete sich seine Ahnung. Unter dicken Dampfwolken, mit einer Fahne aus Qualm und Funken und schnell wie der Teufel den Ohio herunterrauschend kam ein langer, hocheleganter Raddampfer in Sicht. Marsh erkannte ihn sofort, noch bevor er seinen Namen lesen konnte; es war die Southerner von der Cincinnati Louisville Packet Company. »Ich wußte es!« sagte er. »Sie muß Louisville einen halben Tag nach uns verlassen haben. Außerdem war sie schneller als wir.« Er trat ans Seitenfenster, schob die geschmackvollen Vorhänge beiseite, die die heiße Nachmittagssonne abhielten, und schaute zu, wie der andere Raddampfer einlief, festmachte und Passagiere aussteigen ließ. »Sie wird nicht lange brauchen«, meinte Marsh zu seinem Lotsen. »Sie hat keine Fracht ein‐ oder auszuladen, sondern nur Passagiere. Lassen Sie sie zuerst ablegen, verstanden? Lassen Sie sie den Fluß ein Stück abwärts fahren, dann ziehen Sie raus und folgen ihr.«

Der Pilot verzehrte den letzten Bissen Kuchen und wischte sich mit der Serviette ein Stückchen Baiser aus dem Mundwinkel. »Ich soll also der Southerner einen Vorsprung lassen und dann versuchen, sie einzuholen? Cap’n, wir werden bis Cairo ihren Qualm atmen müssen. Danach werden wir sie sowieso aus den Augen verloren haben.«

Abner Marshs Gesicht verfinsterte sich, als wäre dort ein drohendes Gewitter aufgezogen, das sich jeden Moment entladen konnte. »Was für einen Unsinn reden Sie da, Mister Kitch? Einen solchen Quatsch will ich nie mehr hören. Wenn Sie ein so schlechter Lotse sind, daß Sie das nicht schaffen, dann sagen Sie es nur, und ich werde Mister Daly aus dem Bett scheuchen und ihn herholen, damit er das Ruder übernimmt.«

»Das ist immerhin die Southerner«, beharrte Kitch.

»Und dies hier ist die Fiebertraum, damit Sie es niemals vergessen!« brüllte Marsh. Er wandte sich um und stürmte mit finsterem Gesicht aus der Kabine. Diese verdammten Lotsen, die kamen sich vor, als wären sie die Könige des Flusses. Natürlich waren sie das, wenn das Boot erst einmal auf dem Fluß unterwegs war, aber das gab ihnen noch nicht das Recht, sich gegen ein kleines Wettrennen zu sträuben und die Fähigkeiten seines Raddampfers anzuzweifeln.

Seine Wut verflog, als er sah, daß die Southerner bereits weitere Passagiere aufnahm. Er hatte auf eine solche Gelegenheit gewartet, seit er die Southerner quer über den Fluß in Louisville gesichtet hatte, aber er hatte nicht zu hoffen gewagt, daß es so schnell dazu kommen würde. Wenn die Fiebertraum die Southerner einholen konnte, dann wäre ihr Ruf schon halb gefestigt, sobald die Leute am Fluß davon erfuhren. Der andere Raddampfer und seine Schwester, die Northerner, waren der Stolz der ganzen Linie. Es waren ganz besondere Schiffe, im Jahr ’53 ausschließlich auf Geschwindigkeit gebaut. Kleiner als die Fiebertraum, waren sie die einzigen Dampfschiffe, von denen Marsh wußte, daß sie keine Fracht, sondern nur Passagiere transportierten. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie sich etwas verdienen ließ, aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, wie schnell sie waren. Die Northerner hatte einen neuen Rekord für die Strecke Louisville-St. Louis aufgestellt, damals, im Jahr ’54. Im darauffolgenden Jahr hatte die Southerner ihn unterboten, und ihre Zeit war noch immer die kürzeste; ein Tag und neunzehn Stunden genau. Hoch oben an ihrem Ruderhaus trug sie das goldene Geweih, das sie als schnellsten Raddampfer auf dem Ohio kennzeichnete.

Je mehr er sich mit der Aussicht beschäftigte, es mit ihr aufnehmen zu können, desto aufgeregter wurde Abner Marsh. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß dies etwas war, das Joshua sicherlich auf keinen Fall versäumen wollte, Schönheitsschlaf hin, Schönheitsschlaf her. Marsh stampfte nach vorn zu Yorks Kabine, entschlossen, ihn herauszutrommeln. Er klopfte mit dem Knauf seines Spazierstocks heftig an die Tür.

Keine Antwort. Marsh klopfte erneut, lauter und drängender. »Hallo da drin!« dröhnte er. »Schwingen Sie sich aus dem Bett, Joshua, wir veranstalten ein Wettrennen!«

Noch immer drang kein Geräusch aus Yorks Kabine. Marsh drehte den Knauf und fand die Tür verschlossen. Er rüttelte daran, schlug gegen die Kabinenwände, trommelte gegen die Fensterläden, brüllte; alles war zwecklos. »Verdammt noch mal, York«, schimpfte er, »kommen Sie hoch, oder Sie versäumen alles!« Dann hatte er eine Idee. Er ging zurück zum Ruderhaus. »Mister Kitch, Sir!« rief er hinauf. Abner Marsh konnte alles übertönen, wenn er seine Lunge füllte und ihre ganze Kraft einsetzte. Kitch schob den Kopf aus der Tür und schaute zu ihm herab. »Lassen Sie mal die Pfeife erschallen«, bat Marsh ihn, »und pfeifen Sie solange, bis ich abwinke, verstanden?«

Er kehrte zu Yorks verschlossener Tür zurück und schlug wieder heftig dagegen, und plötzlich stieß die Dampfpfeife ihren durchdringenden Schrei aus. Einmal. Zweimal. Dreimal. Lange, wütende Stöße. Marsh ließ dazu seinen Spazierstock wirbeln.

Yorks Kabinentür schwang auf.

Marsh warf einen gründlichen Blick auf Yorks Augen, und sein Mund blieb mitten im Ruf offen stehen. Die Dampfpfeife ertönte wieder, und er winkte hastig. Sie verstummte. »Kommen Sie rein«, flüsterte Joshua York mit eisiger Stimme.

Marsh trat ein, und York schlug die Tür hinter ihm zu. Marsh hörte, wie er abschloß. Sehen konnte er es nicht. Er sah überhaupt nichts. Sobald die Tür ins Schloß gefallen war, herrschte in Yorks Kabine eine Finsternis wie in einem tiefen Schacht. Nicht ein Lichtstrahl drang unter der Tür oder durch die mit Läden verbarrikadierten und mit Vorhängen verhüllten Fenster herein. Marsh kam sich vor, als wäre er plötzlich erblindet. Aber in seinem Gedächtnis blieb eine Vision haften, das letzte, was er erkannt hatte, ehe es dunkel wurde. Joshua York in der Türöffnung stehend, so nackt wie am Tag seiner Geburt, die Haut so todeshaft weiß wie Alabaster, die Lippen in tierhafter Wut verzerrt, die Augen wie zwei rauchige graue Schlitze, hinter denen die Hölle lauerte.

»Joshua«, sagte Marsh, »können Sie keine Lampe anzünden? Oder die Vorhänge aufziehen? Ich kann nichts sehen.«

»Ich kann sehr gut sehen«, antwortete Yorks Stimme aus der Finsternis hinter ihm. Marsh hatte nicht gehört, wie er sich genähert hatte. Er wandte sich um, stieß gegen etwas. »Stehenbleiben«, befahl York mit einer derartigen Schärfe und Bestimmtheit, daß Marsh keine andere Möglichkeit hatte als zu gehorchen. »Moment, ich mache Ihnen Licht, bevor Sie meine Kabine demolieren.«