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Rabe nahm den Schlag entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl in ihren großen dunklen Augen Tränen standen. »Mir wäre es lieber, du würdest mich hundertmal schlagen, Nereni, als mich mit einer solchen Verachtung in den Augen anzusehen.« Die Stimme des geflügelten Mädchens zitterte und verriet solche Qual, daß Nerenis Herz um ein Haar weich geworden wäre – hätten nicht die Ereignisse der vergangenen Monate die kleine Frau so sehr verändert, daß sie sich kaum selbst wiedererkannte. »Glaubst du denn, daß du irgend etwas anderes als Verachtung verdient hast?« gab sie unumwunden zurück. »Ich habe dich geliebt wie eine Tochter, Rabe, aber du hast mich ohne zu zögern verraten und hättest mich sterben lassen – und Eliizar und Bohan mit mir.«

»Nein!« keuchte Rabe. »Harihn hat es mir versprochen! Ich wußte nicht …«

»O doch, das hast du«, fuhr Nereni unerbittlich fort. »Du hättest es besser wissen müssen – und du hast es auch gewußt, tief in deinem Herzen, daß du dich auf das Wort Harihns nicht verlassen konntest – das Wort eines Fremden –, der dir wichtiger war als die Sicherheit derer, die dich liebten und für dich sorgten, als du allein und voller Angst warst. Hätte der Prinz nicht Verwendung gehabt für Bohan, Eliizar und mich, wir wären auf der Stelle niedergemetzelt worden – und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, gab dir das noch lange nicht das Recht, die Magusch an ihre Feinde zu verraten. Denn welches Schicksal ihnen bevorstand, wußtest du ganz genau!«

Rabe wand und krümmte sich unter Nerenis anklagendem Blick. »Aber mein Volk litt, und die Magusch wollten mir nicht helfen …«

»Du törichtes Mädchen!« schnaubte Nereni. »Natürlich hätten sie dir geholfen – sobald Aurians Kräfte zurückgekehrt wären. Du warst nicht die einzige, die zu dieser Zeit in Schwierigkeiten steckte, erinnerst du dich? Wenn du nur deinen gesunden Menschenverstand benutzt hättest, statt dich wie ein verwöhntes, verdorbenes kleines Kind …« Weiter gelangte sie nicht, denn ihre Worte gingen in Rabes hemmungslosem Weinen unter.

»Verzeih mir …«, schluchzte das geflügelte Mädchen.

»Warum sollte ich?« fuhr Nereni sie an.

Rabe holte zitternd Luft. »Weil du die einzige Mutter bist, die ich noch habe …«

Als sie Rabes gequälte, flehende Worte hörte, wurde Nereni mit einem Mal bewußt, daß sie dem Schmerz und der Angst der vergangenen Monate erlaubt hatte, zuviel Macht über sie zu gewinnen. Verspätet fiel ihr ein, daß Rabe für die Konsequenzen ihrer Torheit schweres Leid erfahren hatte, denn der böse Hohepriester hatte das Mädchen nicht nur grausam und entsetzlich verstümmelt, er hatte außerdem auch seine Mutter getötet.

Schließlich triumphierten Nerenis mütterliche Instinkte über ihren Zorn – und, wie sie ein wenig kläglich dachte, wahrscheinlich auch über ihren gesunden Menschenverstand. Sie seufzte und legte ihre Arme um das weinende Mädchen. »Na, na«, murmelte sie mit rauher Stimme. »Wir können doch nicht zulassen, daß die Königin der Geflügelten flennt wie ein verirrtes Kälbchen! Komm, trockne deine Tränen, Kind. Vergiß nur niemals, daß du nicht die einzige bist, die unter den Folgen deiner Torheit zu leiden hatte! Bemüh dich, deine Fehler wiedergutzumachen, dann wirst du feststellen, daß dir die Leute mit der Zeit verzeihen – und schließlich wirst du vielleicht sogar in der Lage sein, dir selbst zu verzeihen.«

»Schöne Worte, Nereni – wenn auch ein wenig optimistisch!« Nereni erschrak, als sie Anvars Stimme wiedererkannte. Die beiden Magusch waren unbemerkt hinzugetreten und standen nun im Eingang. Die Frau sah, wie Rabe unter Anvars steinernem Blick zusammenzuckte, und erschauerte. Hier war jedenfalls einer, der dem geflügelten Mädchen nicht so bald verzeihen würde! Rabe, die Anvars Feindseligkeit spürte, verabschiedete sich hastig und verließ die Kammer.

»Nereni!« Alle Kälte wich aus Anvars Augen, als er einen Schritt vortrat, um sie zu umarmen. Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte Nereni fest, daß sein altes, breites Grinsen zurückgekehrt war. Wie glücklich sie war, ihn in Sicherheit und wohlauf zu sehen! Und zumindest hatten die Schrecknisse, die er erlebt hatte, den Magusch nicht vollkommen verbittert. Nein, dachte Nereni, es ist nur Rabe, die er haßt, und zwar mehr wegen der Dinge, die Aurian und ihrem Kind angetan wurden, als wegen seiner eigenen schlimmen Erlebnisse.

»Aber was in aller Welt hat dich hierhergeführt?« erkundigte sich Aurian ängstlich, als sie nun ihrerseits die kleine Frau in die Arme nahm. Als ihr der Ernst ihrer Mission wieder einfiel, fühlte Nereni sich auf seltsame Weise getröstet von der Unerschütterlichkeit der beiden Magusch. »Es geht um Eliizar«, stieß sie hervor. »Aurian – er will, daß wir euch verlassen!«

Stück um Stück kam nun die ganze Geschichte heraus. Aurian, die Hand in Hand mit einem ernst dreinschauenden Anvar vor ihr saß, runzelte die Stirn. »Was? Er will heute aufbrechen, ohne dir auch nur die Gelegenheit zu geben, uns Lebewohl zu sagen?«

Nereni nickte. »Jharav und seine Leute haben Vorbereitungen getroffen, heute morgen in Richtung Wald aufzubrechen. Jetzt werden sie wahrscheinlich schon nach mir suchen …« Sie versuchte, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen. Angesichts des zornigen Funkeins in Aurians Augen rutschte Nereni unbehaglich auf dem zerbrechlichen Hocker hin und her, der für die Möbelstücke der Himmelsleute ein typisches Beispiel war, und kämpfte mit dem unangenehmen Gefühl, Verrat an ihrem Mann zu begehen. »Eliizar hat Angst«, versuchte sie, ihn zu entschuldigen. »Krieg und Entbehrung, das sind Dinge, mit denen kann er umgehen, aber Hexerei …« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Etwas an eurer Magie raubt ihm seinen Mut und seine Kraft – vor allem nach dem, was mit dem Kind geschehen ist –, so daß er seine Furcht hinter Zorn und Gepolter verbirgt. Was soll ich nur tun, Aurian?« flehte sie. »Ich liebe Eliizar – ich kann ihn nicht verlassen, nicht um alles in der Welt –, aber wie könnte ich dich und Anvar im Stich lassen, nachdem ich euch doch ebenfalls so sehr lieb gewonnen habe? Ich fühle mich so zerrissen …«

Aurian kniete neben ihr nieder und griff nach Nerenis Händen. »Was möchtest du denn tun?« fragte sie.

»Ich möchte, daß wir alle zusammenbleiben«, erwiderte Nereni einfach. »Ich möchte, daß ihr mit mir zurückkehrt und Eliizar diesen Unsinn ausredet.«

Anvar hatte dem Gespräch mit wachsendem Unwillen zugehört. Er wollte Eliizar und Nereni nicht als Kameraden verlieren, aber je mehr er über die Alternativen nachdachte … »Nereni, bist du sicher?« fragte er besorgt. »In gewisser Hinsicht hat Eliizar recht. Es wäre sicherer für euch, wenn ihr mit euren Landsleuten in den Wald zurückkehren würdet. Da, wo wir hingehen, wird es ganz bestimmt neue Kämpfe geben – und so, wie ich Eliizar kenne, wird er dann ganz bestimmt mitten drin sein. Willst du dieses Risiko wirklich auf dich nehmen? Wenn ihm irgend etwas zustoßen sollte, was würde dann aus dir werden, einsam und allein in einem fremden Land?«

»Nun, dann würden wir uns natürlich um sie kümmern!« Aurians Stimme war schroff vor Empörung.

»Solange wir dazu in der Lage sind«, sagte Anvar düster. »Es gibt keinerlei Garantien, daß wir selbst überleben werden. Und was ist mit Eliizars Angst vor Magie? Sobald wir nach Nexis zurückkehren, ist das nämlich genau das, worum es bei diesem Kampf gehen wird.«

»Soll das heißen, du willst, daß wir gehen?« fragte Nereni mit leiser Stimme, in der mühsam zurückgehaltene Tränen zitterten.

Anvar haßte sich dafür, die Hoffnung zerstören zu müssen, die seine Seelengefährtin in das Herz der kleinen Frau gepflanzt hatte. Aber so war es am besten … »Ja«, erwiderte er schonungslos. »Das will ich.«