Xiangs Aufbruch war für die Königin und ihren Mitverschwörer eine beträchtliche Erleichterung gewesen. Aman, der Wesir, der während der Abwesenheit des Khisu die Regierungsgeschäfte leitete, wußte, was gut für ihn war, und hielt sich vom Serail fern. In bezug auf seine Frauen stand Xiang in dem wohlverdienten Ruf, extrem eifersüchtig zu sein. Auf diese Weise hatten Sara und Zalid freie Hand – und es war viel einfacher für sie, die Maskerade aufrechtzuerhalten. Der Eunuch hatte Spione unter den Armen in den schlechteren Stadtvierteln, die mehrere Mädchen im Auge behalten sollten, welche ungefähr zur rechten Zeit ein Kind erwarteten. Sobald eine von ihnen einen Sohn gebar … Sara lächelte bei sich. Was für einen herrlichen Streich sie Xiang da spielen würde: Der nächste Herrscher der Khazalim würde in Wahrheit das Balg einer Bettlerin sein. Bei den Göttern, wenn sie das hinbekam, war es die Sache wirklich wert!
Aufgeheitert von diesem Gedanken, wusch sie sich das Gesicht, und bevor sie zurück in das andere Zimmer ging, in dem der Eunuch sie erwartete, hatte sie sich wieder gefaßt. Sie durfte ihm nicht zeigen, welche Angst er ihr eingejagt hatte. Als sie an einem Spiegel vorbeiging, fiel ihr Blick auf den blauen Fleck, der sich bereits auf ihrer Wange bildete, und sie runzelte die Stirn. Eines Tages würde sie ihn dafür bezahlen lassen. Als die geliebte Mutter von Xiangs Erbe würde sie viel mehr Macht haben als jetzt. In der Zwischenzeit … Sara schnitt eine Grimasse. Zalid hatte eindeutig eine Möglichkeit gefunden, sicherzustellen, daß sie diese verfluchten Schleier auch wirklich trug.
In der langsam zunehmenden Kühle des Abends wirkte der Raum jetzt viel angenehmer. Der Eunuch stand auf eben dem Balkon, den er ihr zu benutzen gerade verboten hatte, und blickte hinunter auf die Stadt. Der Zorn erstickte auch die letzten Spuren ihrer Angst. Sie richtete sich zu voller Größe auf und sah den Eunuchen kalt an.
»Hast du keine anderen Pflichten?« fuhr sie ihn an. »Ich möchte gekühlten Wein, ein leichtes Mahl, und mein Sklavenmädchen soll mir ein Bad einlassen …«
Zalid drehte sich mit einer unverschämt flüchtigen Verbeugung, die als solche kaum erkennbar war, zu ihr um. »Dein Wunsch ist mir Befehl, meine Königin. Und möchtest du nicht wissen, warum ich dich aufgesucht habe? Welche Neuigkeiten ich habe – Neuigkeiten von deinem geliebten Khisu?« Er lächelte höhnisch, denn er gab sich keinerlei Illusionen bezüglich Saras echter Einstellung ihrem königlichen Gemahl gegenüber hin. Saras Kehle war plötzlich wie zugeschnürt.
»Gibt es Neuigkeiten? Welche? Warum hast du mir nicht eher davon erzählt?«
»Bitte reg dich nicht auf, Herrin, nicht in deinem augenblicklichen Zustand.« Sein scheinbar so besorgtes Getue reizte sie derartig, daß sie ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.
»Los, sag es mir!« kreischte sie.
»Wie du wünschst. Ein Kolibri ist heute mit einer Botschaft eingetroffen, wonach Xiang das andere Ende der Wüste erreicht hat. Dort hat er nicht nur Zeichen dafür gefunden, daß Harihn in Dhiammara geweilt hat, sondern auch klare Hinweise darauf, daß der Prinz und seine Gefährten die Durchquerung der Wüste überlebt haben. Daher hat der Khisu beschlossen, seiner Spur weiter nach Norden zu folgen.« Der Eunuch verbeugte sich noch einmal und versuchte gar nicht erst, sein Lächeln zu verbergen. »Leider, leider sieht es also so aus, als müßten wir auf traurige Nachrichten gefaßt sein. Die Abwesenheit unseres geliebten Herrn wird wohl länger dauern, als ursprünglich erwartet.«
Sara setzte sich mit vor Erleichterung weich gewordenen Knien auf die Bettkante. Welche Mißhandlungen sie auch von Zalid erleiden mochte, es sah so aus, als wären die Götter ihrem Plan immer noch wohlgesinnt. ›Seine Gefährten‹, hatte der Eunuch gesagt. Wenn Xiang den entflohenen Prinzen am Ende wieder einfing, würde er sich erst mal mit Aurian beschäftigen. Sie fragte sich, auf was sie, Sara, wohl hoffen sollte: Ob es besser für sie war, wenn Xiang zurückkehrte, um sie dafür zu preisen, daß sie ihm einen Erben geschenkt hatte? Oder ob es besser war, wenn er ums Leben kam und sie die Mutter des neugeborenen Khisu der Khazalim wäre, mit all der Macht, die eine solche Position mit sich brachte. Aber wie es auch ausgehen mochte, sie konnte nur gewinnen. Sara lächelte vor sich hin. Es schien, als würden die nächsten Wochen ausgesprochen interessant werden.
Der Wald brachte Xiang schier um den Verstand. Er war anders als alles, was der Khazalimherrscher je zuvor gesehen hatte. Xiang war an offenes Land gewöhnt und an die endlosen Horizonte seines kargen Reiches, wo man nur das Zirpen der Zikaden hörte und das Säuseln des Wüstenwindes. Hier bedrängten ihn die Bäume auf eine unerträgliche Weise, hüllten ihn mit ihrer Düsternis ein und schnitten ihn von der Wärme der Sonne ab. Zu allen Seiten lauerten unruhige Schatten – eine schnelle Bewegung, die die Pferde erschreckte und den Khisu zusammenfahren und herumwirbeln ließ, die Hand am Schwert, nur um festzustellen, daß der vermeintliche Angreifer bloß ein Zweig war, den der Wind vom Baum gerissen hatte.
Dieser Wind in den Bäumen war wie das ferne Flüstern der Brandung und schuf damit ein ständiges Hintergrundgeräusch, das jeden Hinweis auf eine möglicherweise drohende Gefahr übertönte. Und das ungewohnte, glucksende Plätschern der zahllosen Bäche war genauso schlimm. Fremde Tiere und Vögel raschelten im Unterholz und stießen von den Baumwipfeln schrille Schreie aus. Das Klappern der Pferdehufe wurde von einer weichen Lehmschicht auf dem Boden gedämpft, die gefährliche Löcher, Wurzeln und heruntergestürzte Äste verdeckte. Wieder und wieder versperrten ihnen Baumstämme oder dorniges, undurchdringliches Gestrüpp den Weg, so daß die Khazalimkrieger gezwungen waren, von ihrem ursprünglichen Weg abzuweichen. Es dauerte nicht lange, da hatten sie alle jegliches Gefühl für die Richtung verloren und zogen blind durch ein dichtes, grünes Labyrinth.
Der Khisu bereitete sich große Sorgen. Seine Soldaten waren nach der grausam anstrengenden Hetzjagd durch die Wüste erschöpft, und dieser seltsame Ort stürzte auch sie in Angst und Schrecken. Von Zeit zu Zeit war er sicher, ferne Rufe und Schreie aus dem anderen Teil des Waldes zu hören. Dreimal hatte er jetzt Boten ausgeschickt, die den Wald auskundschaften sollten. Keiner von ihnen war zurückgekehrt. Doch Xiang, der sein Unternehmen von Minute zu Minute mehr bereute, drängte grimmig weiter, umgeben von nur noch einer Handvoll Männern. Von den zweihundert Soldaten, mit denen er aufgebrochen war, waren ihm nur noch diese wenigen geblieben. Der Khisu unterdrückte ein Schaudern. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so allein gefühlt, so eingesperrt und gleichzeitig so ungeschützt.
Als sie nach langer Zeit endlich zu einer großen Lichtung gelangten, entspannte sich Xiang ein wenig. Wie gut es tat, die Sonne wiederzusehen und freies Land um sich herum zu haben! Doch plötzlich sirrte ohne jede Vorwarnung ein Pfeil durch die Bäume und traf den neben ihm reitenden Wachposten mit tödlicher Genauigkeit ins Auge.
»Runter!« Bevor das Echo seiner Warnung verklungen war, war Xiang von seinem Pferd gesprungen und lag flach auf dem Waldboden. Einen Moment lang herrschte absolutes Chaos: verwirrte, schreiende Männer, Pferde, die mit einem schrillen Wiehern des Entsetzens in alle Richtungen sprengten und über die glücklosen Krieger hinwegtrampelten, die vergeblich versuchten, sich vor den tödlichen Pfeilen aus dem Wald in Sicherheit zu bringen. Die Geräusche des Waldes gingen im Schreien sterbender Männer unter, und Blut färbte den lehmigen Waldboden rot.