Binnen weniger Sekunden war die Lichtung menschenleer. Eliizar nahm sich eines der Khazalimpferde und sprang in den Sattel. Das Tier wieherte und versuchte, zur Seite auszubrechen, und Eliizar hatte alle Hände voll zu tun, es wieder zu beruhigen. Dann drehte er sich um und rief: »Sturmvogel, Falke – holt unsere anderen Krieger aus dem Wald und schickt sie ebenfalls zurück in die Siedlung. Seht auch zu, daß sie alle Frauen mitbringen!« Dann gab er seinem verzweifelten Reittier die Zügel frei und flog pfeilschnell zwischen den Bäumen dahin.
Die Siedlung verdiente bisher noch kaum diesen Namen. Sie bestand lediglich aus einer Handvoll Hütten, die sich auf einer großen Lichtung um einen Bach scharten; daneben gab es auch einige stabilere Holzhäuser in den verschiedensten Stadien der Fertigstellung. Bisher war nur ein einziges dieser dauerhaften Gebäude bewohnbar und wurde normalerweise als Versammlungsort und Zuflucht vor schlechtem Wetter benutzt. Heute diente es als Krankenlager.
Die Frauen, die zurückgeblieben waren, kümmerten sich bereits um die ersten der insgesamt – glücklicherweise – nur wenigen Verwundeten. Die anderen Frauen, die draußen das Feuer schürten, blickten überrascht und betroffen auf, als Eliizar und Jharav mit einigen anderen berittenen Kriegern herbeigaloppierten. Der Schwertmeister sprang von seinem schwitzenden Pferd und warf demjenigen der Männer, der ihm am nächsten stand, die Zügel zu. »Versteck die Pferde!« rief er und wandte sich dann an die erschrockenen Frauen am Feuer. »Der Feind kommt. Nehmt, was ihr braucht, und geht ins Langhaus. Ganz egal, was geschieht, ich will keinen Laut von dort hören. Und sorgt dafür, daß die Verwundeten ebenfalls still sind. Geht jetzt!« Die Frauen beeilten sich, ihm zu gehorchen.
Mittlerweile kehrten weitere Gruppen von Kriegern und Frauen auf die Lichtung zurück, nachdem die Geflügelten sie informiert hatten. Eliizar holte alle Leute zusammen. Bei seiner wilden Jagd durch den Wald hatte er schnell nachgedacht. Jetzt rief er Jharav zu sich und begann, ihm seinen Plan zu erklären. Als er fertig war, waren auch die meisten seiner Krieger zurückgekehrt. Er sah von einem zum anderen, denn er rechnete mit vielen Fragen, aber keine einzige wurde gestellt. Sie alle hatten begriffen. Eliizar war ungeheuer stolz auf seine Leute. Jeder einzelne von ihnen war bereit, sein Leben zu geben für … Plötzlich stellte Eliizar fest, daß ein vertrautes, geliebtes Gesicht fehlte. Das Blut in seinen Adern erstarrte. »Nereni!« stieß er hervor. »Wir müssen sie finden!«
Jharav legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn festzuhalten. »Es ist zu spät, Eliizar – wir müssen unsere Plätze einnehmen. Der Feind ist schon fast da.«
Nereni und ihre kleine Schar, die aus drei Frauen und zwei jungen Soldaten bestand, die sie bewachten, hatte sich im Unterholz so gut versteckt, daß man sie in der allgemeinen Aufregung übersehen und über den Rückzug nicht informiert hatte. So war sie nicht mit den anderen nach Hause aufgebrochen. Wie man es ihnen aufgetragen hatte, hielten sie die Stellung und warteten auf Opfer oder auf die Botschaft, daß der Kampf zu Ende war. Zuerst war ihnen das Warten ganz leicht gefallen, denn ihr Erfolg hatte sie aufgemuntert, und sie waren verständlicherweise stolz auf die Rolle, die sie bei der Verteidigung ihrer Siedlung spielten.
Im Laufe der Zeit wurden die Frauen jedoch rastlos. Es war schon lange her, seit irgendwelche Feinde hier entlanggezogen waren, und von ihren eigenen Leuten war nichts zu sehen und nichts zu hören. Hatte man sie vergessen? Und was sollten sie jetzt tun? Die beiden jungen Soldaten, die kaum Erfahrung im Kämpfen hatten, waren keine große Hilfe. Schließlich entschieden die Frauen nach einer langen, hitzigen und im Flüsterton geführten Debatte, daß man sie übersehen haben müsse und daß sie nun am besten heimkehren sollten. Immerhin hatte sich in diesem Teil des Waldes schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gerührt. Also sprach nichts dagegen, sich aus dem sicheren Schutz des Dickichts herauszuwagen, oder?
Eine Zeitlang ging alles gut. Nervös und mit einigen Schwierigkeiten hatten sie sich zunächst ihren Weg durch das dichte Unterholz neben dem eigentlichen Pfad gebahnt. Dünne Zweige schlugen ihnen ins Gesicht, Dornen bohrten sich in ihre Haut und verfingen sich in ihren Haaren und ihren Kleidern. Sie gelangten kaum vorwärts und mußten sich immer wieder mit Brennesseln und Dornensträuchern herumschlagen, mit Wurzeln, die sie stolpern ließen, und Löchern in dem weichen Waldboden, in denen sie sich wieder die Knöchel verrenkten. Schon bald hatten sie mehr als genug. Zerkratzt, schmutzig und schwitzend ließen sie schließlich den mühsamen Weg durchs Unterholz erleichtert hinter sich und traten hinaus auf den ungeschützten Pfad. Nereni entspannte sich langsam, denn sie war nun überzeugt davon, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Eine Weile bereitete es ihr noch Sorgen, daß sie sich nicht an ihre Befehle hielten, und sie wußte ohne die Hilfe und Erfahrung ihrer früheren Kameraden nicht recht, was sie tun sollte. Wie sehr sie sie doch vermißte, ganz besonders jetzt. Aber wie dem auch sei, es schien, als käme sie auch ganz gut allein zurecht …
Als der Pfad an einer Stelle, an der zwei Wege aufeinandertrafen, eine scharfe Biegung vollzog, liefen sie direkt in ein Dutzend Khazalimkrieger hinein. Es war schwer zu sagen, wer den größeren Schrecken davontrug. Einen Augenblick lang sahen die beiden Gruppen einander nur an, Nerenis Leute starr vor Entsetzen, die Eindringlinge auf der Hut vor einer Falle. Dann dämmerte den Kriegern, daß ihre Gegner wirklich nicht mehr waren als sie zu sein schienen: zwei unerfahrene Jungen und eine Handvoll Frauen. Die Khazalim stürzten vor.
Schreiend rannten die Frauen in die Büsche am Rand des Pfades, während einer der jungen Soldaten sofort niedergestochen wurde. Die Pferde der Eindringlinge konnten das Unterholz nicht durchdringen, und die Khazalim verloren kostbare Sekunden dadurch, daß sie erst aus dem Sattel klettern mußten. Mit vor Angst hämmerndem Herzen zwängte sich Nereni durch das Gestrüpp, ohne sich um die Dornen und die ihr ins Gesicht peitschenden Zweige zu kümmern. Sie zerrte Ustila hinter sich her – die mit knapp fünfzehn Jahren das jüngste der Mädchen war. Ihnen folgte der zweite der jungen Soldaten. Irgendwoher ertönten schrille Schreie, und Nerenis Magen verkrampfte sich vor Entsetzen und Abscheu. Zumindest eine der Frauen war gefangen worden. Ustila begann zu schluchzen und stolperte, und die ältere Frau riß sie wild auf die Beine. »Komm weiter! Willst du ihr Schicksal vielleicht teilen?« Unbarmherzig zog sie das Mädchen hinter sich her.
Die Schritte ihrer Verfolger wurden immer lauter. Das Mädchen war völlig atemlos vor Erschöpfung, und Nereni selbst erging es nicht besser. Sie rannte blind weiter und hatte nicht mal die Kraft, sich die schweißdurchtränkten Haarsträhnen aus den Augen zu streichen. Ihre Beine schmerzten, und ihr Gesicht und ihre Glieder bluteten aus hundert Kratzern. Jeder Atemzug war eine Qual. Aber wenn sie nicht das Schicksal jener anderen Frau teilen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu laufen. Also lief sie. Eines hatte sie von Aurian gelernt – ganz egal, was passiert, man durfte nicht aufgeben.
Plötzlich verlor Nereni den Boden unter den Füßen. Von panischer Angst ergriffen, ruderte sie wild mit den Armen und glitt einen steilen Abhang hinunter. Sie hörte Ustila noch schreien, als die anderen auch schon hinter ihr herstürzten. Dann schlug sie mit dem Kopf auf, und das nächste, was sie mitkriegte, war, daß das Mädchen und der junge Soldat auf ihr lagen. Nach Atem ringend, versuchte Nereni, sich aus dem Wirrwarr der beiden Leiber über ihr zu befreien. Als rauhe Borke über ihre Schulter schrammte, blickte sie auf und stellte fest, daß ein riesiger, alter Baum ihren Sturz gebremst hatte. Jetzt, da die beiden anderen sich ebenfalls wieder hochrappelten, schaffte sie es endlich, sich von ihnen zu befreien, indem sie sich mit Hilfe eines niedrigen Zweigs hochzog. Dann wurde ihr bewußt, daß sie sich auf dem Grund einer breiten, ringsum von steilen Hängen umgebenen Senke befanden – die beste Falle, die man sich nur denken konnte.