»Schnell!« Sie bückte sich, um dem Mädchen aufzuhelfen, aber in diesem Augenblick hörte sie bereits triumphierende Schreie von oben und erstarrte. Noch bevor sie sich ganz aufgerichtet hatte, schlitterten vier Khazalimkrieger den Hügel hinunter. Nereni benutzte ein Wort, das sie von Aurian gelernt hatte und wich gegen den Baum zurück, wobei sie Ustila mit sich riß. Dann zog sie das Messer aus ihrem Gürtel, versteckte jedoch die Hand, die es hielt, in einer Falte ihres Gewandes. Der junge Soldat erhob sich mühsam, zückte sein Schwert und stellte sich zwischen die Frauen und den Feind – eine tapfere, aber nutzlose Geste. Nereni hörte seinen Todesschrei, sah ihn jedoch nicht fallen; denn mittlerweile hatten die anderen Khazalim sie umzingelt.
Die Krieger des Khisu blieben am Rand der großen Lichtung abrupt stehen und betrachteten mit verwunderten Blicken die Siedlung. Diese Ansammlung jämmerlicher Hütten, die Frauen, die um das Feuer herum saßen und arbeiteten, und alle anderen Anzeichen einer jungen, aber blühenden Gemeinschaft waren das letzte, was sie in diesem Wald erwartet hätten. Der drahtige, von Narben gezeichnete alte Veteran, der schon seit Jahren Xiangs militärischer Stellvertreter war, zügelte sein Pferd. Er hielt die Hand hoch, und die etwa vierzig Soldaten, die er mit Mühe und Not hatte zusammentrommeln können, verschwanden zurück in den Wald, um sein Signal abzuwarten, bevor sie weiterritten. Aber irgend etwas ließ den Mann zögern. Er hätte nicht so lange gelebt und sich sein Kommando bewahrt, wenn er sich blind in irgendwelche Abenteuer gestürzt hätte.
Er runzelte die Stirn und spielte geistesabwesend mit seinem langen Schnurrbart, wie er es oft tat, wenn er nachdachte. Was ging hier vor? Während all der Jahre und der ungezählten Plünderzüge nach Norden zu den Pferdeleuten war der Wald stets völlig verlassen gewesen. Es erstaunte ihn, daß der verwöhnte Harihn von allen vom Schnitter verlassenen Orten ausgerechnet diesen gewählt hatte, um sich anzusiedeln, aber die Männer, die seinen Soldaten aufgelauert hatten – und er mußte zugeben, daß sie ihre Sache gut durchgeführt hatten –, waren eindeutig Khazalim.
Während des ganzen Kampfes jedoch hatte man nichts von dem Prinzen selbst gesehen. Der rückgratlose junge Hund saß wahrscheinlich schmollend in einer dieser Hütten, dachte der Krieger verächtlich, und ließ wie gewöhnlich seine Männer die ganze Sache allein ausbaden. Einige Sekunden beobachtete er die Frauen, die nach Khazalimmanier züchtig verschleiert waren, während sie gelassen ihre häuslichen Pflichten verrichteten. Sie wurden nur von zwei schlaftrunkenen Männern bewacht, die mit gezückten Schwertern auf den Stufen eines großen Holzgebäudes standen. Harihn hatte eindeutig nicht damit gerechnet, daß der Feind so weit vorstoßen würde. Der Dummkopf hatte wirklich großes Zutrauen zu seinen Leuten. Der alte Hauptmann grinste freudlos. Nun ja, dann stand dem Prinzen jetzt ein Schock bevor. Er ließ die Hand sinken und gab damit seinen Leuten das Signal zum Angriff. Dann stieß er seinem Pferd die Sporen in die Flanken und sprengte, dicht gefolgt von seinen Soldaten, auf die Lichtung.
In Windeseile warfen die Frauen am Feuer ihre Röcke und Schleier ab und gaben sich damit als Männer und Krieger zu erkennen. Ihre Schwerter blitzten im Sonnenlicht auf, und gleichzeitig pfiff ein Hagel von Pfeilen aus den Hütten, die die herannahenden Soldaten niedermähten, sobald sie aus der Deckung auftauchten. Diejenigen, die noch standen, wurden schnell voneinander getrennt und kämpften gegen Krieger mit harten Gesichtern, die früher ihre Landsleute gewesen waren. Das Pferd des Hauptmanns stürzte mit einem lauten Schrei zu Boden; ein Pfeil hatte sich in seinen Hals gebohrt. Der alte Soldat ließ sich gerade noch rechtzeitig zur Seite rollen und sprang wieder auf die Füße, den Säbel noch in der Hand – nur um sich plötzlich einem Geist aus der Vergangenheit gegenüberzufinden: Eliizar! Es war der einäugige Schwertkämpfer, der früher einmal als Kommandeur unter ihm gedient hatte. »Du!« stieß der Hauptmann hervor.
Eliizar nickte. »Ich freue mich, daß du dich an mich erinnerst«, sagte er grimmig. Sein Schwert blitzte so schnell herab, daß der alte Soldat kaum Zeit hatte, sich zu verteidigen. Er parierte den Schwerthieb mit einer unbeholfenen Geste und taumelte zurück, wobei er beinahe über einen am Boden liegenden Leichnam gestolpert wäre. Eliizar folgte ihm. Sein Schwert war ein Wirbel zuckender Lichter, auf den der andere mit der Geschwindigkeit reiner Verzweiflung reagierte. Zu seinem Entsetzen mußte der Hauptmann entdecken, daß der Schwertmeister, obwohl er ein Auge verloren hatte, nichts von seinen alten Fähigkeiten eingebüßt hatte. Ein weißglühender Schmerz zuckte durch seine Eingeweide, und eine Woge der Schwäche schlug über ihm zusammen. Durch einen sich verdunkelnden Nebel von Schmerz sah er, daß rotes Blut von Eliizars Schwert tropfte. Der alte Soldat taumelte, verlor aber nicht den Halt.
Eliizar trat einen Schritt zurück und sah den anderen Mann abwägend an. »Es muß keine tödliche Wunde sein«, sagte er. »Du warst immer einer der besten, und wir brauchen gute Männer für das neue Leben, das wir uns hier einrichten wollen. Ergib dich, und ich werde dich verschonen. Komm zu uns hier in den Wald.«
Der Hauptmann spuckte ihm ins Gesicht. Er hob seine zitternde Klinge von neuem, fest entschlossen, sein Leben teuer zu verkaufen. »Den Khisu verraten? Niemals!«
Eliizar schüttelte traurig den Kopf. Sein Schwert fuhr abermals herab. Es war das letzte, was der alte Soldat sah.
Der Schwertmeister stützte sich einen Augenblick lang keuchend auf seine Klinge. Ich bin auch nicht mehr so jung, wie ich mal war, dachte er kläglich. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Kampf und mußte feststellen, daß er beendet war. Überall auf der Lichtung lagen tote und verletzte Männer, von denen die meisten die Uniform des Khisu trugen. Eine kleine Schar Überlebender wurde von den Siedlern in Schach gehalten, und nun traten auch die Frauen vorsichtig aus dem Langhaus, um sich der Verwundeten anzunehmen. Eine von ihnen blieb über einer regungslosen Gestalt stehen und wurde starr vor Schreck. »Eliizar«, rief die Frau drängend.
Der Verwundete war Jharav. Sein Gesicht war grau, und sein Atem kam in keuchenden und zischenden Stößen. Die Vorderseite seines Lederwamses war blutverschmiert. Als sich Eliizar über ihn beugte, öffnete er die Augen. »Guter Kampf«, flüsterte er. »Ganz wie in alten Zeiten …«
Eliizar stieß einen leisen Fluch aus. Jharav brauchte Hilfe, und zwar schnell. Er brauchte Nereni … Der Schwertmeister erstarrte. Wo war Nereni?
Sie hatten nicht damit gerechnet, daß eine Frau kämpfen würde. Der erste der Khazalim, der Hand an Nereni legte, erhielt das Messer zwischen die Rippen, aber die beiden anderen waren ihrer Überraschung inzwischen Herr geworden. Der eine, dessen Arme bis zu den Ellbogen mit dem Blut des jungen Burschen befleckt waren, packte Nereni und zerrte sie zu Boden, wo er einen Hagel von Schlägen auf sie niedergehen ließ und an ihren Kleidern zerrte. Der andere Krieger mußte Ustila eingefangen haben. Nereni konnte, während sie selbst sich gegen ihren Angreifer wehrte, die Schreie des Mädchens hören; das gellende Kreischen fachte Nerenis Zorn nur noch stärker an und gab ihr den Mut, aus Leibeskräften zu kämpfen. Aurian hatte ihr, während sie zusammen eingesperrt gewesen waren, den ein oder anderen Trick gezeigt. Sie schaffte es, einen Arm zu befreien, und stach einem ihrer Angreifer die steifen Finger in die Augen. Als sie spürte, wie seine Augäpfel nachgaben, stieg ihr bittere Galle in der Kehle auf. Der Mann schlug die Hände vors Gesicht, taumelte heulend zurück, und eine blutige Flüssigkeit sickerte durch seine Finger. Außer sich vor Zorn ließ sein Kamerad eine Faust auf Nerenis Kiefer krachen, und sie mußte an dem Blut, das ihr in den Mund schoß, würgen. Der Mann preßte sie nach wie vor zu Boden und konnte in dieser Position nicht an sein Schwert heran, aber plötzlich glitzerte ein Messer in seiner Hand.