Nereni hatte von Anfang an gewußt, daß es hoffnungslos war. Selbst wenn sie sie zuerst vergewaltigt hätten, hätten sie sie danach getötet. So blieb blieb ihr wenigstens dieser Schmerz und diese Demütigung erspart. Eliizar wäre stolz auf sie gewesen …
Das Messer hob sich, blitzte im Sonnenlicht blutrot auf – und entfiel den zuckenden Fingern des Kriegers. Der Mann röchelte, seine Augen traten aus den Höhlen, und er versuchte vergeblich, an der dünnen Schnur, die um seinen Hals lag, zu zerren. Nereni war kaum von der Last seines Gewichtes befreit, da wurde sie auch schon von einer drahtigen Hand auf die Füße gezogen, und sie blickte in Sturmvogels nachtdunkle Augen. Sie krümmte sich über seinem Arm zusammen, würgte und spuckte Blut und einen Zahn aus, den ihr die Faust ihres Angreifers aus dem Kiefer geschlagen hatte. Als sie sich schließlich wieder straffte und ihre tränenden Augen mit einem Lumpen aus ihrem zerfetzten Rock trocknete, sah sie Fink, wie er gerade seinen Fuß vom Rücken des Khazalim hob und die blutige Schnur zusammenwickelte. Ustila kauerte mit zerfetzten Kleidern schluchzend zwischen den Wurzeln des großen Baumes. Ihr Angreifer lag neben ihr. Aus seinem Rücken ragte ein Dolch heraus, wie er mit seinem in besonderer Art geschnitzten Knochengriff für die Himmelsleute typisch war. Nicht weit entfernt lag der Mann, dem Nereni die Finger in die Augen gestoßen hatte; auch er war tot, sein Schädel von einem großen Stein zerschmettert. Sturmvogel breitete seine gewaltigen Schwingen aus, so daß sie das grauenvolle Bild dahinter nicht mehr sehen konnte. »Komm, meine tapfere Freundin«, sagte er sanft. »Das Schlimmste ist jetzt vorbei. Wir werden euch nach Hause bringen.«
Ein völlig verzweifelter Eliizar war gerade damit beschäftigt, Suchtrupps zu organisieren, als er in der Ferne das Geräusch von Flügelschlägen hörte und die Himmelsleute auf die Lichtung zufliegen sah, wobei sie mit ihren menschlichen Lasten den Baumkronen gefährlich nah gerieten. Als Sturmvogel mit Nereni landete, stürzte Eliizar vor, und sein Herz verwandelte sich beim Anblick ihrer zerfetzten, blutbefleckten Kleider und ihres angeschwollenen, zerkratzten Gesichtes zu Eis. »Nereni!« Als er sie in die Arme nahm, konnte er ihr Zittern spüren, aber sie hob stolz das Kinn und wischte sich ungeduldig mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, eine Geste, die auf seltsame Weise an Aurian erinnerte. »Mir geht es gut«, murmelte sie durch dick angeschwollene Lippen. »Die Himmelsleute haben uns gerettet, gerade noch …« Über seine Schulter hinweg erblickte sie plötzlich Jharav. »Eliizar, nein! Er ist doch nicht …«
»Nein, aber er ist schwer verwundet«, erklärte ihr Eliizar sanft.
»Ich muß ihm helfen!« Ohne auf seinen Protest zu achten, daß sie selbst Hilfe brauche, eilte Nereni an die Seite des Verwundeten.
Der Schwertmeister drehte sich zu den Geflügelten um. »Ich kann euch gar nicht genug danken«, begann er, aber Sturmvogel kam ihm zuvor.
»Denk nicht mehr daran«, sagte er zu Eliizar. »Heute haben sich zum ersten Mal seit Jahrhunderten Himmelsleute in die Angelegenheiten der erdgebundenen Rasse eingemischt. Fink und ich haben herausgefunden, daß wir durchaus jemanden, der nicht zu unserem eigenen Volk gehört, gern haben – und für ihn kämpfen können. Und das war ein gutes Gefühl. Wenn du nichts dagegen hast, würden wir gern unsere Frauen herholen und jeden anderen, den wir überreden können, mitzukommen. Wir wollen uns in den Bergen am Waldrand ansiedeln, um eure Freunde zu sein und an euren Unternehmungen teilzuhaben; die beiden Gemeinschaften – die im Himmel und die auf dem Boden – können einander Hilfe und Beistand leisten.«
Eliizar starrte Sturmvogel mit offenem Mund an. Das war nicht nur die längste Rede, die er je von einem Geflügelten gehört hatte, auch ihr Inhalt erstaunte und erfreute ihn. Lächelnd hielt er den beiden geflügelten Kriegern die Hände hin. »Kommt zu uns, und seid uns willkommen«, sagte er. »Ich wüßte nicht, worüber ich mich mehr freuen könnte.«
Eine Stunde später hatte sich die Lichtung völlig verändert, da die erschöpften Siedler so schnell wie möglich auch noch die letzten Spuren des Kampfes beseitigt hatten. An mehreren Feuerstellen wurde Essen gekocht, und ein köstlicher Duft lag in der Abendluft. Man hatte die Verwundeten ins Langhaus gebracht, wo die Frauen sich hingebungsvoll um sie kümmerten, und Nereni hatte berichtet, daß sich Jharav noch immer an sein Leben klammerte. »Wenn er die heutige Nacht überlebt«, hatte sie zu Eliizar gesagt, »dann denke ich, hat er alle Chancen, sich wieder zu erholen. Der Schnitter weiß, der alte Narr ist ein zäher Bursche – und außerdem stur genug, um zu überleben.«
Die übrigen Arbeiten, die an diesem Abend verrichtet werden mußten, hatten Eliizar weit weniger froh gestimmt. Ölige Qualmwolken erhoben sich über einer nahen Lichtung, wo auf verschiedenen Scheiterhaufen die Leichen von Freund und Feind verbrannt wurden. Obwohl er nicht wußte, ob das ein kluger Schritt gewesen war, hatte er den gefangenen Überlebenden von Xiangs Streitmacht die Chance geben wollen, sich den Siedlern zuzugesellen; aber er hätte sich keine Gedanken darüber zu machen brauchen. Alle, die noch übrig waren, waren Xiang absolut treu ergeben und hatten sich geweigert, ihren Bündniseid zu brechen. Bis auf den letzten Mann hatten sie den einzig ehrenwerten Ausweg gewählt, der ihnen geblieben war, und sich in ihre Klingen gestürzt. Eliizar war entsetzt angesichts dieser Verschwendung so vieler guter Männer. Wie sooft dachte er voller Dankbarkeit an Aurian, die ihm die Gelegenheit gegeben hatte, jenes Land zu verlassen, das für so viele Grausamkeiten verantwortlich war. Die Ereignisse dieses Tages würde ihn bis an das Ende seines Lebens verfolgen.
Aber das waren keine passenden Gedanken für einen Tag des Sieges. Der Schwertmeister stand abseits seiner Männer am Rand der Lichtung und hoffte, daß ihm die Einsamkeit dabei helfen würde, sein Gemüt zu beruhigen, als er zu seiner Erleichterung feststellte, daß die Geflügelten zurückkehrten. Sie hatten sich erboten, den Wald noch einmal abzusuchen, bevor das Licht des Tages erlosch, um sicherzugehen, daß ihnen keiner der Eindringlinge durchs Netz geschlüpft war. Sie waren jedoch viel länger weggeblieben, als für diese Aufgabe notwendig gewesen wäre, und mit Einbruch der Dämmerung hatte Eliizar begonnen, sich zu sorgen.
»Wir bringen gute Neuigkeiten!« rief der ungeduldige Fink, der wie gewöhnlich zu sprechen begann, bevor er überhaupt gelandet war. »Wir haben euren verschwundenen König gefunden!«
»Zumindest glauben wir das«, fügte der vorsichtigere Sturmvogel hinzu, nachdem er sicher auf dem Boden stand. »Wenn der Narr weniger ungeduldig gewesen wäre und bis zum Untergang des Mondes gewartet hätte, hätten wir ihn vielleicht nie gefunden. Aber wir konnten ihn in dem Juwelenglühen sehen, wie er durch die Wüste ritt, als wären Dämonen hinter ihm her.«
Eliizar versteifte sich. »Wie weit ist er schon gelangt?« fragte er. »Könnt ich mich zu ihm bringen?«
»Natürlich!« erwiderte Sturmvogel. Der weniger robuste Fink reckte seine Flügel und seufzte. »Für dich nehmen wir auch das noch auf uns – aber das sollte dann besser die letzte Aufgabe für heute sein. Ich könnte mehrere Jahreszeiten gleichzeitig verschlafen und erst im nächsten Frühjahr wieder aufwachen.«
Aus der Luft war die Glitzernde Wüste ein atemberaubender Anblick. Über dem gewellten Meer aus Juwelenstaub entzündete der gerade erst aufgegangene Halbmond Feuerfunken, die wie Rubine, Saphire, Smaragde und Diamanten leuchteten. Strahlen blendenden Lichts drangen bis hoch hinauf in die Luft und wetteiferten mit der Pracht der Sterne – und Eliizar, der zwischen den beiden keuchenden Geflügelten hing, konnte weit draußen im Sand den dunklen Fleck einer sich hastig bewegenden Gestalt erkennen. Die Himmelsleute hatten sie mit ihren scharfen Raubvogelaugen bereits vor ihm erspäht und gingen nun langsam tiefer. Xiang, der nichts anderes im Sinn hatte als seine Flucht, verfiel keinen Augenblick lang auf die Idee, nach oben zu schauen. Eliizar wartete, bis er direkt über dem Khisu war, und die müden Geflügelten unternahmen einen letzten, tapferen Versuch, mit der Geschwindigkeit ihres Opfers mitzuhalten. Dann zog er sein Messer und durchtrennte den Boden des Netzes, so daß er auf den flüchtenden König fiel und ihn aus dem Sattel warf.