»Anvar – aber warum?« Bis auf diesen einen gequälten Satz war Nereni ausnahmsweise bis zur Sprachlosigkeit entsetzt. Der Schmerz in ihrem Gesicht ließ Anvar zurückprallen. Aurian funkelte ihn auf eine Weise an, als wolle sie ihm das Fleisch von den Knochen streifen. »Anvar – was tust du da, verdammt noch mal?« Ihre Gedankenstimme hallte schrill in seinem Kopf wider.
Anvar seufzte. »Das wäre das beste für Eliizar und Nereni.« Seine eigene Gedankenstimme klang vor Kummer gedämpft. »Es mag nicht das sein, was du dir wünschst, oder das, was Nereni und ich uns wünschen – aber bedenke doch die Alternativen, Aurian. Das ist ihre größte Chance, diese ganze Sache zu überleben.«
Aurian biß sich auf die Lippen. Anvar konnte sehen, wie sehr es sie danach verlangte, seinen Argumenten zu widersprechen, aber … »Verflucht, du hast recht«, sagte sie leise zu ihm und wandte sich ab – aber nicht schnell genug, um das Glitzern von Tränen in den Augen vor ihm verbergen zu können. Als sie sich jedoch wieder zu Nereni umdrehte, hatte sie ihre Gefühle vollkommen unter Kontrolle. »Anvar und Eliizar haben recht«, sagte sie entschlossen. »Ich werde dich so sehr vermissen, liebste Freundin, aber wir müssen an eure Zukunft denken. Sobald unsere Mission erfüllt ist …«
»Lüg mich nicht an, Aurian!« brauste Nereni auf. »Wir werden uns nie wiedersehen.« In ihren Augen stand ein zorniges Funkeln. »Der Schnitter verfluche dich – ich bin zu dir gekommen, weil ich mir deine Hilfe erhofft habe – und nicht das! Bedeuten wir dir denn gar nichts mehr? Eliizar und ich waren gut genug, um dir durch die Wüste zu helfen und durch die Berge, die dahinter lagen – und im Wald hattest du ebenfalls Verwendung für uns, als es darum ging, Vorräte anzulegen und Kleider zu nähen …« Nerenis Stimme brach fast vor Erbitterung. »Aber jetzt, da deine anderen Freunde aus dem Norden hergekommen sind, willst du uns nicht länger um dich haben!« Sie brach in Tränen aus.
»Nereni, das ist nicht wahr!« rief Aurian.
»Das ist es ganz bestimmt nicht.« Anvar sprang auf die Füße und wollte einen Arm um die Schultern der kleinen Frau legen, die ihn trotz seiner beharrlichen Versuche abschüttelte. »Nereni – hör mir zu«, sagte er. »Aurian und ich werden weit nach Norden reisen, über den Ozean hinweg, und uns stehen Gefahren bevor, die viel größer sind als alles, was wir bisher erlebt haben. Ehrlich, wenn es an mir läge …« Er lächelte kläglich. »Nun, wenn auch nur die geringste Chance auf Erfolg bestünde, würden Aurian und ich auf der Stelle mit euch in den Wald zurückkehren, um uns in Frieden ein neues Leben aufzubauen. Aber das ist unmöglich. Wir müssen weitermachen, müssen uns Härten und Gefahren stellen – aber es würde uns sehr helfen zu wissen, daß wenigstens einige unserer Kameraden in Sicherheit sind.«
»Aber ihr braucht mich«, protestierte Nereni. »Wer wird sich um euch kümmern? Ich werde ganz krank vor Sorge sein – und was ist mit dem Kind …«
»Wolf ist ein weiterer Grund, warum du gehen solltest«, sprach Aurian sanft auf sie ein. »Du weißt doch, mit welchem Entsetzen Eliizar das arme Kind betrachtet.« Ihre Augen funkelten bei diesem Gedanken, aber sie brachte sich mit einem tiefen Atemzug rechtzeitig unter Kontrolle. »Das ist natürlich nicht Eliizars Schuld. Du weißt, daß Wolf als ein normales menschliches Kind geboren wurde – du warst dabei –, aber Eliizar hat ihn nie so gesehen, wie er am Anfang war. Er möchte nicht, daß du irgend etwas mit dem Baby zu tun hast, und ich möchte mich nicht zwischen euch stellen. Außerdem«, fuhr die Magusch schmeichelnd fort, »wirst du so viele Leute haben, um die du dich kümmern kannst, daß du gar keine Zeit haben wirst, dir übermäßige Sorgen um Anvar und mich zu machen. Die überlebenden Soldaten sowie Harihns Gefolge sind im Wald zurückgeblieben. Es sind genug Leute da, um eine blühende kleine Kolonie aufzubauen. Und die wird Führer brauchen, Nereni. Wenn Anvar und ich durchkommen und der Welt den Frieden zurückbringen, wird es in Zukunft eine ungeheure Hilfe für uns sein, Verbündete im Süden zu haben.« Sie lächelte. »Du wirst sehen, das nächste Mal, wenn wir uns treffen, kehren wir zurück, um den König und die Königin des Waldes zu besuchen!«
»Jawohl – wenn wir alle so lange leben«, erwiderte Nereni säuerlich, aber der Zorn war aus ihrer Stimme gewichen, und Anvar hoffte, daß sie sich vielleicht doch langsam für die Idee, mit den anderen zurückzubleiben, würde erwärmen können.
»Du tust es also?« drang er in sie. »Für uns?«
»Habe ich eine Wahl?« fuhr Nereni ihn an.
Aurian legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Natürlich hast du eine Wahl«, sagte sie. »Wenn du wirklich mit uns kommen willst, geht das für mich in Ordnung – aber ich habe so das Gefühl, daß du es ohne Eliizar tun müßtest. Ist das wirklich das, was du willst?«
Nereni verbarg, solchermaßen besiegt, ihr Gesicht in den Händen. »Nein«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Anvar sah eine einzelne Träne zwischen ihren Fingern hindurchsickern. Aurian, die ebenfalls Tränen in den Augen hatte, kniete nieder, um die Frau zu umarmen, die ihr an so vielen schweren Tagen eine treue Freundin gewesen war. »Es wird schon alles gut werden«, murmelte sie. »Es ist das beste so – du wirst sehen. Und das nächste Mal, wenn wir uns treffen, sind all diese Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt, und Wolf wird wieder ein menschlicher Junge sein …« Sie drehte sich zu Anvar um. »Würde es dir etwas ausmachen, uns einen Augenblick allein zu lassen, Anvar? Wenn du Rabe herholen lassen würdest, damit wir uns von ihr verabschieden können, könnten wir auch dafür sorgen, daß Nereni zurückgebracht wird.«
»Ich kümmere mich darum«, erwiderte Anvar. »Wir sollen uns besser beeilen. Eliizar wird …«
»Eliizar wird kein Wort sagen«, unterbrach ihn Aurian. »Nicht, nachdem ich mit ihm gesprochen habe, ganz bestimmt nicht!«
»Dann gehst du also auch mit?«
»Ja – um mit Parric zu reden. Außerdem würde ich mich gerne von Eliizar verabschieden und Wolf holen. Willst du auch mitkommen?«
»Und ob ich das will.«
Nachdem der Magusch den Raum verlassen hatte, achtete er sorgfältig darauf, seine Gedanken vor seiner Seelengefährtin abzuschirmen. Er wollte Aurian nicht über Gebühr beunruhigen, aber … Außerdem mußte Anvar unbedingt mit Eliizar reden – um eine Warnung weiterzugeben.
Der Besitz der Windharfe hatte Anvar ein übernatürliches Bewußtsein für Wettermuster beschert, und zwar über große Entfernungen hinweg. Als die Magusch der Welt den Frühling zurückgaben, hatte es dabei eine unglückliche Nebenwirkung gegeben, die Aurian nicht bewußt geworden war. Die tödlichen Sandstürme über der Edelsteinwüste waren völlig zum Erliegen gekommen. Mit einem Schaudern erinnerte sich Anvar an Xiang, den grausamen tyrannischen König der Xandim. Als die beiden Magusch seinen Fängen zusammen mit seinem Sohn Harihn entkommen waren, hatte Aurian es geschafft, den König so in Angst und Schrecken zu versetzen, daß er sie nicht verfolgte. Mittlerweile jedoch, so glaubte Anvar, mußte sich die Furcht gelegt haben. Xiang war ein rachsüchtiger Mann – es schien undenkbar, daß er nicht versuchen würde, ihnen früher oder später nachzusetzen. Und jetzt, da die Wüste wieder sicher war, war der Weg nach Norden frei – und führte direkt durch das große bewaldete Tal, in dem Eliizar und die anderen sich ansiedeln wollten. Wenn Xiang kommen sollte … Anvar schauderte. Jemand mußte Eliizar warnen.
Weiche Wogen morgendlichen Nebels drifteten um den Sockel von Incondors Turm. Das Klirren der Gebisse und das ungeduldige Aufstampfen von Pferdehufen schallten weit durch die kühle, feuchte Luft, während tief in ihre Umhänge gehüllte Gestalten mit gedämpften Stimmen in der frühmorgendlichen Stille hin und her liefen, um die letzten Vorkehrungen für ihre Abreise zu treffen. Andere wie Jharav, der alte Hauptmann der Khazalim, hatten die Dinge besser organisiert als ihre säumigen Kameraden und saßen nun schon ungeduldig wartend auf ihren Pferden. Am Rande des kleinen Wäldchens, fernab von der aufgeregten Hektik im Turm, wurden traurige Abschiedsworte gewechselt.