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Seine Worte wurden von einer schallenden Ohrfeige unterbrochen. »Wie kannst du wagen, so etwas zu behaupten!« schrie Zanna ihn an. »Mein Vater ist der tapferste Mann, den ich kenne. Niemand sonst hätte diesen Marsch durch die Katakomben und die Kanäle bewältigt, wie er es getan hat, verwundet und zu Tode erschöpft. Er kommt schon wieder auf die Beine – er braucht nur etwas Zeit …«

Ihre Stimme verlor sich, und man hörte nur noch leises Schluchzen. Eine Tür fiel mit lautem Knall ins Schloß, und Füße trampelten die Treppe hinauf. Anschließend vernahm Vannor den Klang herzzerreißenden Weinens aus dem Nebenzimmer.

Plötzlich fühlte sich der Kaufmann zutiefst beschämt. Während der ganzen letzten Zeit hatte er nur an sich gedacht und niemals einen Gedanken daran verschwendet, welch schreckliche Sorgen Zanna ausstehen mußte. Das arme Kind – ihre Mutter war bereits tot, und ihr Vater konnte ihr sogar noch weniger von Nutzen sein. Wie ein Donnerschlag traf es ihn, daß er in Wirklichkeit gar nicht nutzlos war: daß jemand ihn immer noch brauchte; daß jemand immer noch davon abhängig war, daß er stark und tapfer war – und immer noch mit felsenfester Überzeugung daran glaubte, daß er nichts von seiner alten Kraft eingebüßt hatte.

»Steh auf, du verdammter selbstsüchtiger alter Narr«, murmelte Vannor zornig bei sich. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um im Bett rumzuliegen und dir selber leid zu tun und über die Ungerechtigkeit der Welt zu jammern. Deine Tochter braucht dich!«

Das Verlassen des Bettes erwies sich als weit schwieriger, als der Kaufmann es sich je vorgestellt hätte. Ihr zermürbender Marsch durch die unterirdischen Kanäle war nichts im Vergleich zu dem Problem, sich auf Beinen hochzuziehen, die, wie es schien, zu zwei kraftlosen Stöcken geworden waren, während sich das Zimmer vor seinen Augen drehte. Innerlich lehnte sich Vannor gegen seine Schwäche auf und stellte fest, daß der Zorn ihm nicht nur half, sein Ziel schließlich zu erreichen, sondern auch viele der alles verzehrenden Zweifel und Ängste zu verscheuchen, die ihn während der letzten grauenvollen Tage in die Knie gezwungen hatten.

Vannor klammerte sich mit einer Hand an den Pfosten am Fußende des Bettes und fluchte wild, während er sich gleichzeitig fragte, ob er das verdammte Ding wohl jemals würde loslassen können, ohne sofort umzukippen. Wie, zum Teufel, sollte er den ganzen Weg bis ins nächste Zimmer schaffen? Er schleppte sich, soweit es ging, ohne den Bettpfosten loszulassen, und plötzlich schien ihm die Tür gar nicht mehr so weit entfernt zu sein. Er holte tief Luft, ließ los und taumelte durch den Raum, obwohl nicht viel gefehlt hätte, und er wäre der Länge nach hingestürzt. Der Kaufmann erreichte gerade noch rechtzeitig die Tür und lehnte sich dankbar gegen das herrliche, kräftige Holz; wie ein Betrunkener hing er schwer atmend an der Türklinke, während ihm der Schweiß über die Stirn lief.

Bei allen Göttern – er war ja schon halb am Ziel. Er brauchte nur noch durch den winzigen Flur zu gehen … Plötzlich stellte Vannor fest, daß ihn seine Phantomhand nicht länger quälte.

In der Dunkelheit des vollgestopften kleinen Zimmers lag Zanna auf dem Bett und weinte in ihr Kissen. Sie war am Ende ihrer Kraft. So lange war sie, um ihres Vaters willen, tapfer gewesen, aber jetzt sah es so aus, als würde ihr Mut sie verlassen. Was sollen wir nur tun? dachte sie verzweifelt. Oh, wenn ich ihm doch nur irgendwie helfen könnte. Plötzlich hörte sie, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde. »Geht weg«, keifte sie, ohne den Kopf vom Kissen zu heben. »Laßt mich doch alle in Ruhe!«

Sie spürte, wie sich jemand auf die Bettkante setzte, und dann zerzauste ihr eine vertraute, sanfte Hand das Haar. »Ich bin es, Kleines. Weine nicht mehr.«

»Vater!« Zanna schoß in die Höhe und schlang die Arme um ihn.

Vannor legte seinen gesunden Arm um sie. »Es wird alles wieder gut, mein Mädchen – hab keine Angst. Gib mir nur ein oder zwei Tage Zeit, bis ich meine Beine wieder unter Kontrolle habe, und dann brechen wir auf.«

Aus Nexis herauszukommen würde nicht leicht werden. Die Anzahl der Straßenpatrouillen hatte seit Vannors Flucht beträchtlich zugenommen, vor allem in der Nacht, und Zannas Beschreibung war überall in der Stadt bekanntgemacht worden. Die Belohnung, die Miathan für ihre Gefangennahme ausgesetzt hatte, war so groß, daß sich die Leute jedes Mädchen ihres Alters zweimal ansahen. Ausgerechnet Yanis war es jedoch, der schließlich die Lösung für dieses Problem fand. »Warum muß sie denn eigentlich ein Mädchen sein?« sagte er. »Warum kann sie sich nicht als Junge verkleiden?«

»Was?« rief Hebba empört. »Und sich ihr schönes Haar abschneiden und alles? Wie kann man nur auf so eine Idee verfallen?«

»Nun«, meinte Benziorn mit einem entschuldigenden Lächeln in Zannas Richtung. »Das scheint die einzige Lösung zu sein.«

»Keine Sorge, Hebba«, sagte Zanna entschlossen. »Die Haare kann ich mir ja wieder wachsen lassen.«

Aber später, als die dichte Mähne ihrer abgeschnittenen Locken auf dem Küchenboden lag und Zanna sich in Hebbas winzigem Spiegel ansah, fand sie den Plan lange nicht mehr so gut – um genau zu sein: Sie war maßlos entsetzt. Gütige Götter! dachte sie. Das kann doch unmöglich ich sein. Ich sehe ja aus wie eine Vogelscheuche. Sie hatte schon immer gewußt, daß sie nicht hübsch war, und deshalb schon vor langer Zeit aufgehört, sich Gedanken über ihr Aussehen zu machen, aber jetzt, da Hebba ihr die Haare geschoren hatte – und noch dazu schlecht –, wurde ihr unattraktives Äußeres um so mehr betont. Was würde Yanis, der selbst so hübsch war, von ihr halten, wenn er sie mit dem Mädchen Emmi verglich, nach dem er im Schlaf gerufen hatte? Er hatte gesagt, die Fremde sei schön …

Und Hebba war auch keine Hilfe – immer noch flatterte sie, entsetzt mit der Zunge schnalzend, um Zanna herum. »Du arme Kleine, was haben wir dir nur angetan? Dein ganzes schönes Haar – was für eine schreckliche Sache! Und noch dazu in deinem Alter! Also wirklich, welcher junge Mann würde dich jetzt noch ansehen – du siehst ja selber aus wie ein Junge! Wie konnte der Herr das nur erlauben … Ich habe es ihm gesagt, jawohl. Ach, wenn sie doch nur auf mich gehört hätten.«

Zanna konnte es nicht länger ertragen. »Halt den Mund, du dummes, altes Weib! Es war notwendig. Besser das, als den Magusch in die Hände zu fallen.«

»Nun, mir tut es jedenfalls sehr leid«, fuhr Hebba gekränkt auf. »Aber du regst dich sicher selber schon genug darüber auf.« Mit diesen Worten stürzte sie aus der Küche und schlug die Tür hinter sich zu.

Das verhaßte Spiegelbild verschwamm plötzlich vor Zannas Augen, als sie spürte, wie Tränen ihr die Kehle zuschnürten. Sie schluckte schwer, denn sie wollte sich den Männern gegenüber, wenn diese wieder in die Küche zurückkehrten, nicht verraten. Du Närrin! rief sie sich ärgerlich zur Ordnung. Was du zu Hebba gesagt hast, stimmte – es war notwendig. Wie kannst du dich nach allem, was du in diesen letzten Wochen durchgemacht hast, über so eine Kleinigkeit aufregen. Wenn dein Gesicht für diesen sogenannten Anführer der Nachtfahrer nicht gut genug ist, dann ist das sein Problem.

Aber nicht mal ihr gesunder Menschenverstand konnte sie wirklich trösten, und sie fürchtete sich vor dem, was sie in den Gesichtern der anderen lesen würde, wenn sie zurückkehrten.

Vannor war der erste, der hereintrat, und an der vorsichtigen Art, wie er seinen Kopf durch die Tür schob, erkannte Zanna, daß Hebba getratscht hatte. Schon der bloße Gedanke daran ließ sie vor Wut kochen. »Nun?« fuhr sie ihren Vater an. »Mach schon – lach mich ordentlich aus, damit wir die Sache endlich hinter uns bringen.«

Vannor schüttelte ernst den Kopf. »Ich sehe nichts, worüber ich lachen müßte. Ich konnte es nie verstehen, daß du dich nicht für hübsch hältst – Schönheit ist mehr als ein auffallendes Gesicht, wie deine Schwester und Sara es haben …« Ein leichtes Stirnrunzeln huschte bei dem Gedanken an seine verlorene junge Frau über sein Gesicht. »Aber wie dem auch sei«, fuhr er fort, »du darfst Hebba nicht erlauben, dich aufzuregen. Sie hat ein großes Herz und wenig Hirn, wie Dulsina zu sagen pflegte. Du siehst einfach wunderbar aus, mein Liebes – und wenn es dich wirklich so stört, denk daran, daß dein Haar etwas ist, das in Windeseile nachwachsen wird …«