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Dann war nur allzubald der Zeitpunkt gekommen, sich von dem jungen Nachtfahrer zu verabschieden. Zanna begleitete ihn, soweit das Licht, das durch das Gitter fiel, reichte. Und als Tarnal ihr zum Abschied die Hand gab, kehrten alle Ängste, die Zanna um seinetwillen gehegt hatte, mit einer überwältigenden Woge der Verzweiflung zurück. Impulsiv schlang sie ihm die Arme um den Hals und preßte ihn an sich. »Paß auf dich auf«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Tarnal grinste und erwiderte ihre Umarmung. »Keine Angst – das tu ich.« Nachdem er ihr noch einen Kuß auf die Stirn gegeben hatte, war er schließlich fort. Geistesabwesend berührte Zanna die Stelle in ihrem Gesicht, an der sie noch immer den Abdruck seiner Lippen spüren konnte. Dann sah sie ihm nach, bis sein Licht an der nächsten Biegung des Tunnels verschwand, bevor sie mit zögernden, schleppenden Schritten zurückging, um Hebba zu trösten.

Tarnal sog dankbar die herrlich süße frische Luft ein, die ihn am Ausgang des Kanals empfing; er befand sich jetzt ein Stück flußabwärts auf der anderen Seite des großen, mit Riegeln gesicherten Flußtores in Miathans vor kurzem erbauter Stadtmauer. So schnell er konnte, schlitterte er das steile Ufer bis zum Fluß hinunter und verschwand im Schatten unter den Weiden, deren Zweige bis ins Wasser reichten. Von dort aus setzte er seinen Weg flußabwärts eilig fort, wobei er nur lange genug innehielt, um sich den Schleim von seinen Stiefeln zu spülen.

Obwohl er sich um seine Kameraden sorgte und sich der Gefahren, die ihn erwarteten, bewußt war, erfüllte es Tarnal mit einer unerklärlichen Freude, endlich die Stadt mit ihrem Schmutz, ihrem Qualm und ihren Menschenmengen hinter sich zu lassen; sein Herz jubilierte beim Anblick des funkelnden Sonnenlichts auf dem Wasser, bei dem Vogelgezwitscher und dem fröhlichen Plätschern des Flusses.

Tarnal schlich vorsichtig weiter und ließ sich von seiner Freude nicht von seiner Aufgabe ablenken. Als jedoch Stunde um Stunde dahinging, wurde er immer mutloser. Das erste Bootshaus, auf das er traf, war zum Fluß hin offen, aber leer. Als Tarnal vorsichtig über die niedrige Steinmauer spähte, die das Grundstück der zweiten Villa umgab, sah er einen Gärtner, der dicht beim Bootshaus die Hecken beschnitt. Der Mann verrichtete seine Arbeit gleichgültig und obendrein im Schneckentempo – man hatte den Eindruck, als würde er sich den ganzen Tag damit aufhalten. Also ging der Nachtfahrer wieder hinter der Mauer in Deckung, stahl sich an diesem Grundstück vorbei und schlich einen Weg entlang, der ihm endlos zu sein schien – vor allem, als das dritte Bootshaus ebenfalls leer war, das er über eine fast unerklimmbare Mauer erreichte und dessen Schloß ihn eine volle, zermürbende Stunde kostete, bevor er es aufbrechen konnte.

Tarnal, der sich immer im Schutz der Bäume hielt, die das Ufer säumten, ging weiter flußabwärts, wobei er versuchte, seinen immer geringer werdenden Mut und seinen knurrenden Magen zu ignorieren, bis er plötzlich die letzte der außerhalb der Stadt liegenden Villen erspähte, die sich mit einer hohen, von Eisenspitzen gekrönten Mauer vor Dieben wie ihm zu schützen versuchte. Trotz seiner Müdigkeit und seines Hungers grinste der Nachtfahrer. Damit würde er schon fertig. Solch raffinierte Vorsichtsmaßnahmen waren ein gutes Omen – sie deuteten für gewöhnlich darauf hin, daß es dort etwas gab, was des Stehlens wert war. Er eilte am Ufer entlang und lief um die Mauer herum, bis sie, wie er erwartet hatte, ihren Lauf änderte und zum Fluß hinunterführte. Dort wich sie einem hohen, schwarzen Eisengitter, hinter dem flache Stufen zu einer kleinen, hölzernen Mole führten, auf deren anderer Seite ein prunkvoll erbautes Bootshaus stand; zweifellos war es aus demselben Stein gebaut wie das Wohnhaus, und die eisernen Wassertore waren von der gleichen Machart wie die Gitter.

Verdammt! Das elende Ding lag natürlich auf der falschen Seite der Mole, so daß er über eine freie Fläche laufen mußte, wo ihn jeder sehen konnte. Tarnal seufzte. Nun, es hatte auch niemand behauptet, daß seine Aufgabe leicht sein würde. Er entledigte sich seines Umhangs und dann auch seiner übrigen Kleider einschließlich der Stiefel und seines Schwertes, rollte das Ganze zu einem Bündel zusammen und versteckte es sicher zwischen den Wurzeln eines Baumes hoch oben am Ufer, wo die Erde trocken war. Er zitterte ein wenig in dem kalten Frühlingswind, schaute noch einmal zweifelnd zu der allzu leicht einsehbaren Stelle am Gitter hinüber und wünschte, er hätte auf die Dunkelheit warten können. Aber Vannor hatte ihn gewarnt, daß viele der Kaufleute riesige, wilde Hunde hätten, die sie freiließen, sobald der Abend dämmerte. Nein. Obwohl es ein großes Risiko war, würde er das Boot tagsüber stehlen müssen oder gar nicht.

Schweigend und geschickt wie ein Otter ließ sich der Nachtfahrer in den Fluß gleiten, nur bekleidet mit einem Lendentuch und einem Riemen um den Hals, an dem ein schmaler Dietrich hing. Das Wasser war eiskalt, und die Strömung zerrte an ihm, aber Tarnal, der sein ganzes Leben am Meer verbracht hatte, war ein kräftiger Schwimmer und an kaltes Wasser gewöhnt. Er schwamm unter der Oberfläche und ließ sich von der Strömung an den mit einem Eisenzaun gesicherten Ufer entlangtragen, bis er durch das schlammige Wasser das dunkle Holzgerüst der Mole sah. Dort tauchte er auf, keuchend, aber vor feindlichen Blicken sicher, um ein paarmal tief Luft zu holen, bevor er wieder tauchte und das letzte Stück bis zum Bootshaus zurücklegte.

Wegen der unerwarteten Schnelligkeit der Strömung wäre Tarnal um ein Haar übers Ziel hinausgeschossen. Erst im allerletzten Augenblick erspähte er die Eisenstangen der Wassertore und streckte hastig die Hand danach aus, wobei er sich um ein Haar ertränkt hätte. Schließlich gelang es ihm jedoch, auch seine andere Hand an das Gitter zu klammern und sich so weit hochzuziehen, daß sein Kopf aus dem Wasser ragte. Dann hielt er sich an den lebensrettenden Toren fest, würgte, spuckte Wasser und versuchte verzweifelt, das Geräusch seines Hustens und Prustens zu dämpfen. Als sich sein Atem endlich beruhigte, rieb er den Kopf an seinem Arm, um das tropfende Wasser aus den Augen zu wischen.

Nach einer Weile hatte er sich wieder erholt, so weit, daß er durch das Gitter in die Düsternis des Bootshauses spähen konnte – und stieß einen üblen, von Herzen kommenden Fluch aus. Nach all seiner Mühe war auch dieses verdammte Ding leer. Stöhnend ließ er sich wieder ins Wasser sinken. Jetzt würde er den ganzen Weg zurückschwimmen und in der Kälte des Abends naß und müde in die Abwasserkanäle zurückkehren müssen.

Und wie sollte er das den anderen beibringen – vor allem Zanna –, daß er sie so schmählich im Stich gelassen hatte? Schlimmer noch, wie sollten sie es jetzt schaffen, Vannor und Hebba den ganzen Weg bis nach Wyvernesse zu bringen?

Einen endlosen, verzweifelten Augenblick lang hing Tarnal einfach dort im Wasser, legte den Kopf auf seine Arme und brachte nicht den Mut auf, wieder umzukehren, obwohl das eiskalte Wasser seinem Körper langsam auch die letzte Energie entzog. Die Sonne sank dem Abend entgegen und verwandelte den Fluß in einen gekräuselten Pfad aus gehämmertem Kupfer. Die Niederlage verdüsterte Tarnals Geist so sehr, daß der junge Nachtfahrer blind war für die Schönheit des Abends. Aber schließlich triumphierte der gesunde Menschenverstand über die düstere Laune und sagte ihm, daß er besser schnellstens aus dem Wasser herauskommen sollte. Als er den Kopf hob, stellte er fest, daß das Sonnenlicht auf dem Fluß jetzt Lichtstrahlen direkt in das Bootshaus sandte. Tarnal blinzelte, unfähig, seinen Augen zu trauen. Dort, auf den Planken im hinteren Teil des Gebäudes, lag auf zwei Böcken ein umgestülptes Ruderboot, frisch gekalkt und gestrichen. Man hatte es für den Winter aus dem Wasser geholt und konnte es nun jederzeit wieder hineinziehen.

»Ich danke euch, ihr Götter – o vielen Dank«, flüsterte der Nachtfahrer laut. Er hätte vor Erleichterung weinen können, als er die Hände ausstreckte, um an dem kräftigen Vorhängeschloß zu hantieren, das die Gitter sicherte. Mehr als einmal hatte er allen Grund, dankbar dafür zu sein, daß sein Einbrecherwerkzeug an dem Riemen befestigt war, da es seinen tauben Fingern wieder und wieder entglitt, bis er schließlich vor Wut fluchte. Nach einer Weile wurde seine Beharrlichkeit jedoch belohnt. Das Schloß und die Kette, an der es gehangen hatte, fielen mit einem leisen Platschen ins Wasser, und die Tore schwangen auf gut geölten, lautlosen Angeln auf.