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Es war ungeheuer mühsam, das Boot ohne Hilfe ins Wasser zu bugsieren, aber Tarnal arbeitete mit fieberhafter Hast. Der Abend senkte sich jetzt über das Land, und die Hunde konnten jederzeit freigelassen werden. Auch wenn sie von der anderen Seite des Flusses nicht in das Bootshaus gelangen konnten, würden sie auf jeden Fall wissen, daß er dort war. Sobald er das kleine Boot mit den Riemen darin im Wasser hatte, sah er sich um und fand ein Seil sowie eine alte Plane, die ihm beide sehr nützlich erschienen. Vielleicht konnten sie mit Hilfe eines der Riemen und der Plane ein kleines Notsegel setzen, wenn sie aufs offene Meer hinausfuhren …

Diese neue Hoffnung ließ Tarnal die Müdigkeit vergessen, und er huschte auf leisen Sohlen in dem immer dunkler werdenden Zwielicht aus dem Boothaus. Sobald er den Schutz der Bäume auf der anderen Seite der Mole erreicht hatte, zog er das Boot ans Ufer und vertäute es sorgfältig, bevor er seine Kleider holte. Der warme, trockene Stoff auf seiner Haut war ein Luxus, der ihn fast in Ekstase trieb. Dieses Gefühl setzte die letzten Kraftreserven in ihm frei, die er brauchte, um flußaufwärts zu rudern, wo er auf seine Freunde warten würde.

Für Zanna, die frierend und unbequem auf dem schlüpfrigen Gehweg in der feuchten, stinkenden Kanalisation saß, nahmen die Stunden kein Ende und wurden zu einer furchtbaren Qual. Obwohl sie nach einer ganzen Zeit hungrig und durstig war und Hebba reichlich Proviant in ihrem Korb hatte, genügte der bloße Gedanke daran, an diesem widerlichen, schmutzigen Ort etwas zu essen, um ihr die Galle in die Kehle zu treiben. Da sie selbst außer sich vor Angst war wegen der Gefahren, denen ihr Vater und Tarnal ausgesetzt waren, trieb Hebbas wimmernde Schwarzseherei sie schon bald zur Verzweiflung. Nach einer Weile gelangte sie zu der Einsicht, daß es nur eine einzige Art und Weise gab, wie man das verflixte Weibsstück zum Schweigen bringen konnte – sie mußte so tun, als schliefe sie.

»Hebba, es tut mir sehr leid, aber ich kann die Augen wirklich nicht mehr offenhalten«, unterbrach sie das Wehklagen der älteren Frau. »Du solltest auch versuchen, dich etwas auszuruhen – wir haben eine lange Nacht vor uns.« Dann hüllte sie sich mit einem lautstarken, gespielten Gähnen so gut es ging in ihren Umhang und legte den Kopf auf die Arme. Aber es dauerte gar nicht lange, da wurde aus ihrem Täuschungsmanöver Wirklichkeit, denn sie hatte in der Nacht zuvor kaum Schlaf gefunden.

Hebbas Finger, die sich in der Dunkelheit schmerzhaft in Zannas Arm bohrten, rissen sie schließlich wieder aus ihren Träumen heraus. Bei den Göttern, dachte sie benommen. Wie lange habe ich wohl geschlafen?

»Horch!« zischte Hebba. Zanna konnte spüren, daß sie am ganzen Leib zitterte. »Da kommt jemand!«

Jetzt, da sie richtig wach war, konnte das Mädchen das Geräusch schleppender Schritte von oben hören. »Das sind sicher Vater und die anderen«, sagte sie, zog aber trotzdem das Messer, das Tarnal ihr gegeben hatte, und war dankbar dafür, daß die Dunkelheit diesen Akt vor Hebba verbarg. Die alte Frau hatte schon genug Angst. Weiter unten im Tunnel hörte sie das gequälte Knirschen des Gitters, das zur Seite geschoben wurde.

»Zanna – wir sind es!« flüsterte eine heisere Stimme, und plötzlich kam sich Zanna unaussprechlich töricht vor, weil sie sich von Hebbas Angst hatte anstecken lassen.

»Vater«, flüsterte sie überglücklich. »Wir sind gleich hier auf dem Gehweg.«

»Mach bitte die Laterne an, ja? Wir wagen es nicht, hier oben ein Licht anzuzünden, und wir können nicht die Hand vor Augen sehen – und schon gar nicht die Leiter. In diesen verfluchten Tunneln ist es finsterer als in Miathans Herz, und ich kann unmöglich mit einer Hand die Leiter herunterklettern, wenn es so dunkel ist.«

Aber selbst mit dem Licht und der Hilfe von Benziorn unter ihm und Yanis über ihm hatte Vannor noch große Schwierigkeiten, die Leiter hinunterzuklettern. Schließlich gab er es auf und ließ sich die letzten zwei Meter fallen, wobei die Schmerzen, die der Aufprall seinem verbundenen Armstumpf bereitete, ihn laut fluchen ließen. Zanna bemerkte, daß er die Lederhandschuhe trug, die sie eigens für ihn gefertigt hatten; der rechte Handschuh war bis zu den Fingerspitzen mit Lumpen ausgestopft und mit einem dünnen Lederriemen an Vannors Handgelenk befestigt. Das war Benziorns Idee gewesen – einmal um Vannors Verletzung vor den Infektionen zu schützen, die in der Kanalisation drohten, und zum anderen, um die Tatsache, daß ihm eine Hand fehlte, vor neugierigen Augen zu verbergen. Wenn die Magusch erfahren sollten, daß sich ein einhändiger Mann in Nexis aufhielt, würden sie sofort Bescheid wissen.

»Geh zur Seite!« rief Yanis leise von oben und unterbrach damit Zannas Gedankengang. Sie hatte kaum Zeit gehabt, hastig einen Schritt zurück zu tun, da wurden auch schon zwei schwere Beutel nach unten geworfen. Benziorn hob sie auf. Nachdem er das Gitter wieder zurück an seinen Platz geschoben hatte, ließ sich nun auch der Anführer der Nachtfahrer schnell die Leiter hinuntergleiten.

»Geschafft!« sagte er fröhlich. »Die Sache war gar nicht so schwierig – obwohl ich zugeben muß, daß mir fast das Herz stehengeblieben ist, als diese Patrouille an uns vorbeigegangen ist und Vannor so getan hat, als wäre er betrunken.« Während Yanis sprach, sah Zanna im Lampenlicht, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte, und plötzlich überfiel sie eine heiße Woge des Zorns. Wie konnte dieser Dummkopf nur so selbstgefällig sein? Sie mußten immer noch durch die Kanalisation – und außerdem, was war mit Tarnal, der da draußen sein Leben aufs Spiel setzte? Was, wenn er kein Boot fand? Was, wenn er irgendwo in der Dunkelheit lag, verletzt – oder sogar tot? Mit einem Schaudern versuchte Zanna, diese schrecklichen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Er war sicher gesund und munter, sagte sie sich. Tarnal zumindest hatte einen klugen Kopf auf den Schultern.

Vannor, den der lange Marsch durch die Straßen der Stadt zu Tode erschöpft hatte, verspürte nicht den geringsten Wunsch, auch nur eine Minute länger in den Abwasserkanälen zu bleiben, als unbedingt nötig war. Also gingen sie weiter – Zanna stützte Hebba und trug ihren Korb, während Benziorn dem Kaufmann half. Yanis, der den Weg am besten kannte, nahm die beiden Beutel und ging mit der Laterne durch den feuchten, stinkenden Tunnel voran.

Wie Zanna diese Kanäle haßte! Obwohl sich ihr zweiter langer Marsch unterhalb der Stadt als weniger schwierig erwies als der erste, mußte sie immer noch mit dem Gestank fertigwerden, mit dem Schleim und den allgegenwärtigen, quiekenden Ratten – ganz zu schweigen von den hysterischen Anfällen, mit denen Hebba letztere zur Kenntnis nahm. Mehr als einmal liefen sie bei solchen Anlässen Gefahr, den Halt auf dem schlüpfrigen Gehweg zu verlieren und in den mit Unrat gefüllten Kanal zu fallen. Da sie schon auf der Höhe des Flusses waren, brauchten sie nicht mehr zu klettern, obwohl es dort, wo die Gehwege schmaler wurden, an der Kreuzung zweier Tunnel noch einige heikle Stellen gab. Nichtsdestotrotz erschien es Zanna, als gelangten sie nur qualvoll langsam voran, denn Vannor war fast am Ende seiner Kraft und mußte immer häufiger ausruhen.

Gerade als sie schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, das Tageslicht jemals wiederzusehen, drang ein frischer Lufthauch an ihre Nase, der köstlich nach feuchtem Gras und wildem Knoblauch duftete. Zannas müdes Herz faßte neuen Mut. Endlich hatten sie diesen schrecklichen Ort hinter sich. Wenige Sekunden später erreichten sie den Ausgang der Kanalisation und hatten Zeit, einmal tief Luft zu holen und einen raschen Blick auf die funkelnden Sterne zu werfen, die sich in dem schwarzen Netz der Baumwipfel verfangen zu haben schienen. Dann zog Yanis sie plötzlich das Ufer herunter und drängte sie in den Schutz der Weiden. In der Dunkelheit unter den Bäumen konnte Zanna ihren Vater leise fluchen hören – in seiner Stimme lag eine verzweifelte Schärfe, die von Sorgen kündete. Auf der Stelle begriff Zanna, was geschehen war, und das Blut erstarrte ihr in den Adern. Tarnal war nicht dort, wo er sein sollte.