Als sie schließlich wieder in der Lage war, zu begreifen, was um sie herum geschah, hatte Yanis zu sprechen begonnen. »Nun, es hat keinen Sinn, wenn wir so dicht bei den Stadtmauern warten. Es ist doch mal wieder typisch, daß Tarnal die Sache verpfuscht. Ich hätte selber gehen sollen. Vannor, meinst du, du kannst heute abend noch ein kleines Stückchen weitergehen? Wenn wir es irgendwie schaffen könnten, in kleinen Etappen bis nach Norberth zu gelangen, könnten wir vielleicht am Hafen ein Boot stehlen …«
Seine Stimme wurde leiser, während er in der Dunkelheit voranschritt, dicht gefolgt von den anderen. Selbst Hebba trottete gehorsam hinter ihnen her, viel zu müde, um noch klagen zu können. Zanna biß die Zähne zusammen und ging, von stillem Zorn erfüllt, weiter. Wie konnte Yanis so herzlos sein? In ihrem eigenen Kummer war ihr die Angst in seiner Stimme entgangen, die er mit Wut zu überdecken suchte. Der Mistkerl kann von Glück sagen, daß er so weit vorne ist, dachte sie zornig. Wenn ich ihn jetzt in die Finger bekäme, würde ich ihn in den Fluß werfen.
Ganz in ihre wütenden Gedanken versunken, folgte sie den anderen blind. Das Gehen war schwierig, und immer wieder stolperten sie in der Dunkelheit über Wurzeln oder hohe Grasbüschel. Es dauerte nicht lange, da hatte sich Zanna von den vielen Stürzen die Knie aufgeschürft, an ihren Händen klebte schwarzer Schlamm, und ihre Füße waren völlig durchnäßt, weil sie dem Fluß mehrere Male zu nahe geraten war. Aber das alles war ihr gleichgültig – sie bereitete sich zu große Sorgen um Tarnal, um sich wegen solcher Kleinigkeiten aufzuregen.
Dann hörte sie aus der Dunkelheit vor sich einen leisen, erfreuten Ausruf von Yanis. »Bei allen Göttern – da ist ein Boot! Da hinten, unter den Bäumen!«
Inzwischen war der Mond aufgegangen, und als Zanna eilig weiterlief, sah sie die Silhouette des jungen Nachtfahrers vor dem silbrigen Wasser, als er die Hand ausstreckte, um nach dem Seil zu greifen, mit dem das kleine Boot vertäut war. Plötzlich erhob sich eine dunkle Gestalt aus dem Bug, die Yanis derart erschreckte, daß er das Seil mit einem erschrockenen Aufschrei fallen ließ und nach seinem Schwert griff.
»Yanis? Bist du das?« Die schlaftrunkene Stimme entlockte Zanna einen Freudenschrei, denn sie gehörte Tarnal.
Einen Augenblick später kam es am Ufer des Flusses zu einem glücklichen Wiedersehen – zumindest Zanna war glücklich.
»Was soll das heißen, du bist eingeschlafen?« fragte Yanis seinen Freund empört. »Was für ein Narrenstück hast du dir diesmal wieder geleistet? Wir dürfen uns den ganzen weiten Weg durch die Dunkelheit am Ufer entlangquälen, während du hier liegst und schnarchst wie ein Schwein … Und ist dieser kleine Waschbottich da vielleicht alles, was du finden konntest? Ich hatte an sich nicht die Absicht, den ganzen Weg bis nach Wyvernesse zu rudern.«
Tarnals graue Augen blitzten im Mondlicht gefährlich auf. Ohne ein Wort zu sagen, packte er Yanis beim Kragen und warf ihn in hohem Bogen in den Fluß. »Dann schwimm, du undankbarer Bastard!« rief er seinem prustenden Anführer zu, während er gleichzeitig eine Hand ausstreckte, um dem tropfnassen Yanis aus dem seichten Wasser herauszuhelfen. Zanna hatte sich ihren Ärmel in den Mund gestopft, um nicht laut loszulachen.
Danach wurde die Sache etwas einfacher, obwohl sie alle Mühe hatten, das Boot über den schmalen Weg zu bringen, der am Wehr vorbeiführte. »Ich schätze, jetzt bist du froh, daß ich kein größeres geklaut habe«, verhöhnte Tarnal den keuchenden Yanis, während sie unter dem beträchtlichen Gewicht des Bootes taumelten. Es gelang ihnen, sich durch den Hafen von Norberth hindurchzumanövrieren, bevor die Sonne aufging, und sie verbrachten die Stunden des Tageslichts in einer der kleinen Buchten entlang der Küste. Obwohl sie hungrig und durchnäßt waren, wagten sie nicht, ein Feuer anzuzünden, aber sie waren auch viel zu erschöpft, um solchen Widrigkeiten große Beachtung zu schenken. Außerdem schien das Wetter für die Jahreszeit ungewöhnlich warm zu sein. Eingerollt in ihre Decken, gut versteckt in einer Höhle in den Dünen, verschliefen sie den größten Teil des Tages, obwohl natürlich immer einer von ihnen Wache hielt. In dem schwächer werdenden Licht eines herrlichen, purpurnen Sonnenuntergangs rüsteten sie sich dann wieder zum Aufbruch.
Glücklicherweise war die Küstenströmung bisher auf ihrer Seite gewesen, und das Meer war ruhig genug, um das kleine Boot nicht zu sehr herumzuwerfen, obwohl Hebba während der ganzen Reise starr vor Angst war. Jetzt jedoch, kurz bevor sie ihrer sandigen Zuflucht wieder einmal den Rücken kehren wollten, stellte Zanna fest, daß Yanis und Tarnal stirnrunzelnd übers Meer schauten, bevor sie mit leisen, erregten Stimmen zu diskutieren begannen.
»Was ist los?« fragte sie sie mit einem verwirrten Blick in Richtung Ozean. Für sie schien alles in Ordnung zu sein – das Wasser war nahezu spiegelglatt. »Es ist doch völlig ruhig, oder?«
»Ja – noch«, murmelte Yanis. »Aber bevor diese Nacht zu Ende ist, werden wir einen höllischen Sturm kriegen. Die Frage ist, sollen wir es riskieren, jetzt aufzubrechen, und beten, daß wir ankommen, bevor die Sturmfront uns erreicht, oder bleiben wir hier und warten ab, bis alles vorbei ist? Wie der Himmel und das Meer im Augenblick aussehen, steht uns ein ziemlich schlimmes Unwetter bevor; und selbst wenn das Schlimmste vorüber ist, kann es Tage dauern, bis das Meer wieder ruhig ist.«
Zanna hätte weinen können. Nicht jetzt – nicht so kurz vorm Ziel! In diesem Moment gesellte sich Vannor zu ihnen. »Trügen meine Augen mich, oder sieht der Himmel heute abend besonders bedrohlich aus?«
Yanis nickte. »Ja, uns steht ein Sturm bevor, aber was sollen wir tun? Hierbleiben, oder es riskieren und weiterfahren?«
»Ihr beide, Tarnal und du, seid die Seeleute.« Vannor zuckte mit den Achseln. »Wir werden uns nach eurer Entscheidung richten. Aber ehe wir hierbleiben und nichts zu essen haben und keinen Ort, an dem wir uns vor dem Sturm verstecken können, schlage ich vor, besser sofort aufzubrechen und zu versuchen, nach Wyvernesse zu kommen, bevor der Sturm uns erreicht. Schließlich können wir, wenn die Sache zu gefährlich wird, immer noch irgendwo an Land gehen – und auf diese Weise wären wir unserem Ziel wenigstens ein Stückchen näher gerückt.«
Hastig stiegen sie ins Boot und ruderten los, wobei sie ihr Bestes taten, um ihre Sorgen vor Hebba zu verbergen. Um die Reise zu beschleunigen, fanden diejenigen von ihnen, die bei guter Gesundheit waren, sich zu Paaren zusammen und übernahmen jeweils einen der Riemen: Yanis und Benziorn bildeten ein Paar, und Zanna, die während ihres Aufenthaltes bei den Nachtfahrern mit Booten vertraut geworden war, ruderte mit Tarnal. Zanna verspürte eine Woge des Mitleids für ihren Vater, der an der Ruderpinne saß. An seiner finsteren, unglücklichen Miene konnte sie ablesen, daß seine Unfähigkeit, beim Rudern zu helfen, ihm seine eigene Nutzlosigkeit wieder einmal schmerzhaft vor Augen führte. Obwohl ihr der Rücken und die Arme weh taten, obwohl sie schwitzte und in der stickigen Luft kaum atmen konnte, war sie immer froh, wenn sie wieder rudern mußte. Auf diese Weise brauchte sie die bedrohliche Masse schwerer, düsterer Wolken nicht anzusehen, die vom Westen her den Himmel überzogen.
Das erste Anzeichen dafür, daß sich etwas veränderte, war das Auffrischen des Windes. Obwohl das Rudern jetzt einfacher war, spürte Zanna, wie ihr ein Schaudern der Angst über den Rücken lief. Schon bald wurde das Wasser kabbeliger, und das kleine Boot tanzte in der schweren Dünung auf und ab, so daß es schwierig wurde, die Riemen zu bedienen. Immer häufiger klatschten die Wellen gegen den Bug und spritzten ihre Gischt ins Boot. Bis auf Tarnal und Yanis, die beide erfahrene Seeleute waren, war ihnen allen mittlerweile übel geworden. Jetzt übernahmen die beiden Nachtfahrer die Riemen, denn sie wußten besser als die Landratten und die Frauen, wie man bei einem solchen Unwetter ein Boot handhabte. Hebba begann, vor Angst zu stöhnen und zu wimmern. Zanna reichte ihr den Eimer, und schon bald hatte die alte Köchin soviel damit zu tun, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen, daß ihr zum Jammern keine Zeit mehr blieb.