Выбрать главу

»Möchtest du, daß ich uns davon befreie?« Anvars Hand stahl sich in seinen Umhang, um die Harfe der Winde zu berühren, die er sich mit Lederriemen auf den Rücken geschnallt hatte. Eine herrliche Melodie von Sternengesang hallte in seinem Kopf und sandte ein köstliches Schaudern über seinen ganzen Körper, als er den Kristallrahmen berührte. Anvar biß die Zähne zusammen, um dieser Verlockung zu widerstehen. Denn er hatte es bisher noch nicht geschafft, die Macht des Artefakts ganz zu zähmen, und die Harfe versuchte immer wieder, ihn mit ihrer Sirenenmusik dazu zu bringen, ihre Magie auf die Welt loszulassen.

»Anvar – warte!« Aurian fing seine Hand auf. Sie wußte aus ihren eigenen frühen Erfahrungen mit dem Stab der Erde von seinen Schwierigkeiten, die Harfe unter Kontrolle zu halten, und hatte ihm in den vergangenen Tagen ungeheuer geholfen. Als sie seinen Seufzer hörte, drückte sie mitleidig seine Hand. »Keine Angst – du wirst sicher bald deine Chance erhalten. Aber da dieser verwünschte Sturm jetzt schon seit zwei Tagen bläst, kann niemand wissen, wie lange er noch andauern wird. Wenn wir Parrics Nachtfahrerfreunde dazu bewegen könnten, uns ihre Schiffe zu schicken, brauchen wir dich vielleicht, um den Ozean zu beruhigen, damit wir die Überfahrt wagen können. Wenn wir uns in diesem Stadium zu sehr ins Wetter einmischen, könnte das die Probleme später noch verschlimmern.«

»Aber wie willst du den Leviathan dann erreichen?« wandte Anvar ein.

»Ich werde mich jetzt auf die Suche nach ihm machen.« Aurians Gedankenstimme duldete keinen Widerspruch. Sie hatte bereits die Hände gehoben, um ihren Umhang zu öffnen. »Ich will verdammt sein, wenn ich hier noch länger rumstehe und warte.«

»Aurian, das ist Wahnsinn!« Anvar hielt ihre Hände fest. »Du bringst dich um.« Seine alte Angst vor tiefem Wasser kehrte plötzlich zurück und drohte, ihn zu überwältigen.

»Keine Angst.« Ganz sanft befreite sich Aurian aus seinem Griff. »Wenn ich das wirklich befürchtete, würde ich diese Sache nicht mal in Erwägung ziehen, glaub mir – nicht jetzt, da ich dich und Wolf habe.« Ihre Gedankenstimme wurde weicher, und sie lächelte ihm zu. »Weißt du nicht mehr, daß es für eine Magusch unmöglich ist, zu ertrinken? Außerdem war der Sturm in jener Nacht des Schiffsunglücks viel schlimmer als heute, und damals haben wir beide mit Hilfe des Leviathans überlebt. Ich muß lediglich darauf achten, daß die Felsen mich nicht in Stücke reißen, und wenn du zur östlichen Seite der Landzunge schaust, wirst du eine Art Meeresarm sehen. Wenn ich dort an der richtigen Stelle ins Wasser gehe, müßte die Strömung mich eigentlich von den Felsen wegführen.«

»Was?« fragte Anvar. »Hast du den Verstand verloren?«

»Nein – nur die Geduld«, erwiderte Aurian, während sie sich, wahrscheinlich zum hundertsten Mal, das Haar aus den Augen strich, das der Wind ihr ins Gesicht wehte. »Wenn ich von meiner letzten Begegnung mit den Leviathanen ausgehe, denke ich, daß sie vielleicht eine Weile brauchen, bis sie sich dazu durchringen, uns zu helfen. Wenn ich jetzt Kontakt mit ihnen aufnehmen und ihnen unsere Lage schildere, können wir alle in diese Fischersiedlung zurückkehren, an der wir vorbeigekommen sind, um ganz bequem abzuwarten; und wenn alles gutgeht, können die Boten aufbrechen, sobald sich der Sturm gelegt hat.«

Anvar seufzte. Er kannte das sture Glitzern in den Augen seiner Seelengefährtin und wußte, daß er sie nicht von ihrer Idee würde abbringen können, sosehr er sich auch anstrengen mochte. Es würde eine Menge Zeit sparen, wenn er sich einfach dem Unvermeidlichen beugte, ihrem Urteil vertraute und sie ziehen ließ, damit sie die Sache endlich hinter sich bringen konnte. »Dann geh – aber um aller Götter willen, paß auf dich auf!«

Aurian küßte ihn. »Keine Angst. Um deinetwillen und um Wolfs willen werde ich vorsichtig sein.« Dann war sie fort und lief die Landzunge hinunter, den schmalen Pfad entlang, den die Xandimfischer dort geschaffen hatten.

Als Anvar sie einholte, der durch die verwirrten Fragen von Chiamh und Shia aufgehalten worden war, stand sie bereits auf dem felsigen Ufer des Meeresarms und streifte ihre Kleider ab. »Uh!« murmelte sie durch klappernde Zähne. »Ich und meine klugen Ideen.«

»Geschieht dir ganz recht«, sagte Anvar unbarmherzig, während er ihren Umhang, das Leinenhemd und den Lederrock sowie ihre Stiefel einsammelte – alles Xandimkleider –, damit der Wind sie nicht wegwehte. Dann beschwerte er die Kleider mit ihrem Schwert und den Stiefeln; den Erdenstab, den sie ihm vorsichtig in die Hände legte, schob er sich jedoch in den eigenen Gürtel, wo beide Artefakte ihre Energien in einem Aufblitzen fröhlichen Leuchtens zusammenfließen ließen, bis sogar die Luft summte und glitzerte, so gewaltig war die gemeinsame Macht von Erdenstab und Windharfe.

»Laßt das!« murmelte Anvar gereizt, denn er wollte sich ganz auf Aurian konzentrieren. Als er seinen Willen ausstreckte, um dieser Woge der Macht Einhalt zu gebieten, erstarb das schimmernde, grünweiße Leuchten, und nur ein leises, trotziges Summen blieb zurück. Als Anvar wieder aufblickte, war Aurian bereits eine bleiche, ferne Gestalt, die vorsichtig und barfuß über die Klippen lief, die in die kleine Bucht hineinragten.

»Du hättest ruhig warten können.« Anvar sandte ihr in Gedanken eine verletzt klingende Botschaft nach.

»Warum? Damit ich erfriere?« erklang die geistesabwesende Antwort. »Ich kann genausogut von hier aus mit dir reden – autsch! Diese verfluchten Felsen sind aber auch spitz!«

Bereits im nächsten Augenblick war nichts mehr von ihr zu sehen, nachdem sie am Ende der Landzunge in die aufgewühlten Wellen eingetaucht war. Anvar seufzte und setzte sich, ihr Kleiderbündel an die Brust gepreßt, auf einen Felsbrocken in der Nähe, um auf ihre Rückkehr zu warten. Sie hatte recht, dachte er, als er immer heftiger zu zittern begann. Diese verwünschten Felsen waren wirklich spitz. Nach einer Weile gesellten sich Shia und Chiamh zu ihm, nachdem sie die anderen in die Fischersiedlung zurückgeschickt hatten, die Aurian erwähnt hatte. Während der bewölkte Himmel der Nacht entgegendunkelte, warteten die drei Freunde gemeinsam auf dem windgepeitschten Strand auf Aurians Rückkehr.

Aurian kämpfte sich zitternd an den bösartigen, messerscharfen Felsen entlang und fragte sich, wie sie den Mut aufbringen sollte, ihre Lungen zum ersten Mal mit Wasser vollzusaugen, um auf diese Weise ihre Atmung den Bedingungen des Meeres anzupassen. Wie sich herausstellte, hätte sie sich keine Sorgen zu bereiten brauchen. Als sie ins Wasser sprang, war das Meer so kalt, daß sie unwillkürlich aufkeuchte, und nach einem Augenblick verzweifelten Umsichschlagens, in dem Schmerz und Panik sie schier zu überwältigen drohten, stellte sie fest, daß sie unterhalb der Wasseroberfläche ganz natürlich atmen konnte.

Es war ein Glück, daß dieser Kampf nur kurze Zeit dauerte. Schon jetzt veränderte sich die Strömung und versuchte, sie zu den grausamen Felsen des Riffs zurückzuziehen. Aurian hielt sich unter Wasser, außerhalb der Reichweite der krachenden Wogen über ihr, und begann zu schwimmen, wobei sie mit aller Kraft gegen die Strömung ankämpfte. Da sie auf diese Weise von der schlimmsten Wucht des Sturms verschont blieb, gelangte sie leichter voran, als sie erwartet hatte, und schon bald fand sie ihren eigenen Rhythmus. Wäre das Wasser nicht so schlammig gewesen und so vom Sand durchsetzt, den der heftige Wellengang vom Boden aufgewirbelt hatte, und wäre nicht die unerbittliche Kälte des nördlichen Ozeans gewesen, hätte sie ihren Ausflug sogar genossen.

Als sich die Magusch weiter von der Küste entfernte, stellte sie fest, daß das tiefere Wasser viel klarer war, und jetzt versuchte auch die Strömung nicht mehr, sie bald hierhin und bald dorthin zu zerren. Sie konnte daher tiefer tauchen, in noch ruhigeres Wasser, wo der Zorn des Sturmes, kaum mehr war als eine ferne Erinnerung. Schließlich fand sie, daß sie weit genug geschwommen war, und begann, den Leviathan herbeizurufen.

Aurian versuchte, ihn sowohl mit ihrer Stimme als auch mit ihren Gedanken zu erreichen, und fing an, die getragene, ergreifende, wirbelnde Melodie zu singen, die viele Meilen durch das Wasser dringen und das Walvolk von seinen fernen Wanderungen herbeirufen würde. Sie rief vor allem nach Ithalasa, dem alten Freund, der sie nach dem Schiffsunglück gerettet und ihr neben weisen Ratschlägen auch in jeder anderen erdenklichen Hinsicht geholfen hatte.