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Sie sang eine lange Zeit, bevor sie schließlich lauschte und betete, aus der Ferne eine Antwort zu erhalten. Aber es kam nichts. Aurian unterdrückte einen Anflug von Ungeduld und ruhte sich eine Weile aus, denn das Singen des hohen, klagenden Walgesangs hatte sie erschöpft. Dann begann sie wieder zu singen, begann mit dem langen Gesangszyklus, der ganz am Anfang des Liedes stand – und diesmal erhielt sie eine Antwort.

Der ferne Ruf war so schwach, daß sie ihn zuerst nur in ihren Gedanken und nicht mit ihren Ohren hören konnte. Aurian wartete darauf, daß sich der Sänger näherte, und stimmte jetzt selbst einen Grußgesang an. Schon bald wurde die anfangs nur schwach hörbare Stimme deutlicher.

»Magusch? O Magusch?«

Es war Ithalasa. »Ithalasa! Wie schön, dich wiederzusehen!« rief Aurian freudig. »Was für ein unglaubliches Glück, daß du es bist, der mir entgegenschwimmt.«

»Kein Glück, Magusch, aber es erklärt, warum wir so lange mit der Antwort gezögert haben«, erwiderte der Leviathan. »Einige meiner Schwestern hörten weit draußen im Ozean deinen Gesang und beschlossen, daß wieder mal ich derjenige sein sollte, der unsere Rasse repräsentiert, denn ich habe ja schon einmal mit dir gesprochen. Sie haben mich gerufen – und ich bin gekommen.«

Binnen weniger Minuten war er bei Aurian und schwamm kurz an die Oberfläche, um zu blasen und einen neuerlichen, mächtigen Atemzug zu tun, bevor er wieder zu der Magusch zurücktauchte. Sein massiger, stromlinienförmiger Körper hing reglos in der Strömung; nur seine geschwungenen Schwanzflossen pendelten leicht hin und her. Sein riesiger Leib ließ Aurian wie eine Zwergin erscheinen.

»Nun«, sagte Ithalasa gutgelaunt, »wo liegt diesmal dein Problem, Kleine? Ich sehe hier kein Schiffswrack.«

»Das kannst du auch nicht – ich bin von der Küste der Xandim aus hierhergeschwommen, um dich zu suchen«, erklärte Aurian.

»Das hast du getan? Bei diesem Sturm?« Die Stimme des Leviathan klang überrascht und enthielt eine gute Portion Respekt. »Dann muß dein Problem tatsächlich groß sein.«

»Das ist es auch, aber noch dringender muß ich aus dem Wasser heraus, bevor ich vor Kälte erstarre«, sagte Aurian zu ihm. Sie konnte ihn jetzt nur noch mit ihrer Maguschsicht erkennen, denn das Wasser war mit dem Einbruch der Nacht tiefschwarz geworden. Ihre Arme und Beine waren taub und bleich, und sie konnte spüren, wie ihre Gedanken immer träger wurden. »Ich glaube nicht, daß ich noch viel länger hierbleiben kann, Ithalasa. Würde es dir etwas ausmachen, mich ans Ufer zu bringen, damit ich mich von dort aus mit dir unterhalten kann?«

»Es wird mir ein Vergnügen sein. Und es wird schön sein, wieder einmal mit dir zu schwimmen, Kleine.«

Hilfsbereit streckte der Leviathan ihr eine große, geschwungene Flosse entgegen. »Kannst du auf meinen Rücken klettern, wie du es schon einmal getan hast?«

Aurian stellte fest, daß sie das, was sie damals mit solcher Leichtigkeit geschafft hatte, heute, von der Kälte geschwächt, große Mühe kostete. Aber schließlich gelang es ihr, sich von der ausgestreckten Flosse hochzustemmen und das kleine Stück nach oben zu schwimmen, bis sie Ithalasas breiten, grauen Rücken unter sich sah. Der Leviathan schwamm nun langsam an die Oberfläche und schob sie mit sich hoch, wobei er sehr vorsichtig vorging, damit ihr Körper sich an die veränderten Druckverhältnisse gewöhnen konnte. Schließlich brach er durch die Oberfläche ins Freie, und die Magusch lag auf seinem Rücken, keuchte, würgte und hustete das Wasser aus ihren Lungen, während sie sich von neuem daran gewöhnen mußte, wieder Luft zu atmen.

Nun weiß ich auch, wie sich eine ertrunkene Ratte fühlt, dachte Aurian kläglich. Sie lag keuchend und zitternd auf Ithalasas Rücken und hatte nicht mal mehr die Energie, sich zu bewegen, denn in dem kalten Wind fror sie genauso, wie sie es vorher im Meer getan hatte. Die Wellen brachen sich über ihr, während sich Ithalasa durch das tobende Wasser kraftvoll seinen Weg zurück ans Land bahnte. Und wieder und wieder wurde Aurian in den Ozean zurückgeworfen, denn auf dem gesprenkelten, muschelbedeckten Rücken gab es nur einen Halt: den leichten Höcker der Rückenflosse, die in anderen Clans der Leviathanrasse so deutlich betont war.

Mit Rücksicht auf ihren erbärmlichen Zustand untersagte Ithalasa es sich, der Magusch Fragen zu stellen, während er sie an die Küste brachte. Es dauerte nicht lange, da konnte Aurian in den Blitzen, die das Meer viele Meilen weit erhellten, den dunklen Flecken der Xandimküste erkennen. Beim nächsten Blitz erschien ihr das Land dann schon sehr viel näher.

Das Wasser war tief genug, um Ithalasa bis in den Eingang des Meeresarmes vorzulassen, und Aurian brauchte nur noch wenige Meter zu schwimmen, um das Felsenriff zu erreichen, von dem aus sie aufgebrochen war. Sie dankte den Göttern, daß der Weg nicht länger war. Anvar, der am Ende der Felszunge auf sie wartete, hielt ihr eine starke Hand hin, um sie aus dem Wasser zu ziehen, und ohne seine Hilfe hätte sie es nie geschafft. Ganz schwach hörte sie seine Stimme in ihren Gedanken, als er den Leviathan begrüßte – dann wurde sie sich einer segensreichen Wärme bewußt, als er ihren Umhang um sie wickelte. Anvar hob Aurian hoch und trug sie sicher über die schlüpfrigen, scharfkantigen Steine zum Strand, wo sie Shia und Chiamh und zu ihrem großen Entzücken ein riesiges Lagerfeuer aus Treibholz sah, das mitten im Toben des Sturmes hellauf brannte. Anvar hielt es wohl mit seiner Magie am Leben.

Anvar setzte sie am Feuer ab und ging daran, ihren Körper mit dem rauhen Umhang abzureiben und so das Blut in ihre starren Glieder zurückzubringen, bevor er ihr schließlich seinen eigenen, trockneren Mantel umlegte. Aurians Glück war schließlich vollkommen, als das Windauge ihr einen Becher von seinem dampfenden Kräutertee reichte, den er großzügig mit Honig und dem starken Xandimschnaps gewürzt hatte. Anvar half ihr, den Becher festzuhalten. Aurian zwang das irdene Gefäß zwischen ihre klappernden Zähne und nahm einen tiefen Schluck. Augenblicklich breitete sich Wärme in ihrem durchgefrorenen Leib aus. Binnen weniger Sekunden fühlte sie sich schon viel besser, wenn sie auch ein wenig schläfrig und immer noch unsicher war, ob es ihr wohl jemals wieder wirklich warm werden würde.

Der Schlaf jedoch würde warten müssen, denn sie hatten den geduldigen Leviathan nun lange genug warten lassen. Mit Anvars Unterstützung mühte sich Aurian wieder in ihre Kleider und leistete keinen Widerstand, als seine Hilfe sich in eine schnelle Umarmung verwandelte. »Ich bin so froh, dich wiederzusehen«, murmelte sie, »und dankbar, daß du nicht gesagt hast, du hättest mich ja gewarnt.«

»Nun, das habe ich – aber immerhin hattest du Erfolg, also will ich dich diesmal ungeschoren davonkommen lassen.« Er grinste sie an. »Geht es dir jetzt besser?«

Aurian nickte. »Es wird Zeit, daß wir mit Ithalasa reden.«

»Ich bin glücklich, dich wieder mit deinem Gefährten zusammen zu sehen, nach all euren Mißgeschicken und Streitereien im Süden«, war die erste Bemerkung, die der Leviathan Aurian gegenüber äußerte. Dann hörte er sich die Geschichte an, wie die beiden Seelengefährten einander gefunden hatten, und zeigte sich nicht überrascht darüber, daß Anvar ebenfalls ein Magusch war. Ithalasa freute sich, von der sicheren Geburt des Kindes der Magusch zu erfahren und zu hören, daß das Kleine im Augenblick mit seinen wölfischen Wächtern in der Fischersiedlung war. (Sie hatten Sangra bei ihnen gelassen, die die ganze Zeit über düster vor sich hin gemurmelt hatte, daß sie eine Kriegerin sei und keine verdammte Amme.) Da sowohl Shia als auch Chiamh der Gedankenrede mächtig waren, konnten die Magusch dem Leviathan ihre Freunde vorstellen, und er begrüßte sie freundlich und mit einer gehörigen Portion Neugier – vor allem in bezug auf die ungewöhnliche Natur der Kräfte, über die das Windauge verfügte. Aber als Aurian und Anvar, die auf den sturmgepeitschten Felsen nebeneinanderstanden, ihm erzählten, wie sie in den Besitz des Erdenstabes und der Windharfe gelangt waren, war alles andere plötzlich vergessen. Sie konnten Ithalasas wachsende Erregung spüren, in die sich deutlich erkennbar Sorge mischte.