»Falls es wieder stürmisch wird, bevor ihr Wyvernesse erreicht habt, versucht Kontakt mit uns aufzunehmen«, riet Anvar Chiamh. »Ich werde mein Bestes tun, das Unwetter mit der Harfe aufzuhalten, bis ihr sicher am anderen Ufer gelandet seid.«
Als sie die Bucht erreichten, sahen sie, daß die riesigen Wellenbrecher fort waren, obwohl das Meer immer noch kabbelig war und weiße Gischt die schnell dahintreibenden Wellen krönte. »Ob mit oder ohne Sturm, für mich sieht es aus, als würde das eine verflucht nasse Überfahrt werden«, sagte Parric düster – und verstummte jäh, als er zum ersten Mal einen Blick auf die lange, dunkle Gestalt Ithalasas werfen konnte, der geduldig in der funkelnden See jenseits der Landspitze wartete. »Beim Barte Chathaks!« murmelte der kleine Kavalleriehauptmann. »Ich wußte gar nicht, daß ein Wal so groß ist!« Auch Sangra sah plötzlich ziemlich blaß aus, und Aurian kicherte über ihr Unbehagen.
»Keine Sorge«, beruhigte sie die beiden. »Er kann euch nicht beißen – er hat nämlich keine Zähne.«
»Die braucht er auch nicht«, erwiderte Sangra. »Er könnte uns mit einem einzigen Schluck hinunterspülen.«
Aurian seufzte und gab es auf. Einige Leute würden nie begreifen, daß Ithalasa trotz seiner ungeheuren Größe und seines fremden Aussehens ein kluges, sanftes und intelligentes Wesen war. Voller Traurigkeit dachte sie an die Opfer, die Ithalasa auf sich nahm, um diesen starrköpfigen Landbewohnern zu helfen. Sie dankte den Göttern, daß Chiamh bereit war, zusammen mit den Kriegern diese Reise zu unternehmen. Wenn Parric und Sangra mit dem Leviathan Kontakt aufnehmen konnten, würden sie sicher schon bald ihre Ängste verlieren.
»Kleine, sind deine Gefährten bereit?« drängte Ithalasa Aurian sanft. Plötzlich begriff die Magusch, daß er vor dieser Reise genausoviel Angst hatte wie Parric und Sangra.
»Jawohl«, antwortete sie.
Obwohl die Fischer ihnen ein kleines Holzboot gegeben hatten, damit sie die Reisenden zu dem Leviathan hinausrudern konnten und die beiden ihre Überfahrt zumindest in trockenem Zustand antreten konnten, zog Aurian es für sich persönlich vor, zu Ithalasa hinauszuschwimmen, um ein letztes Mal mit ihm zu reden, bevor er aufbrach. Nicht einmal Anvar hatte eine Ahnung von dem, was zwischen den beiden in diesen letzten Augenblicken geschah, aber als die Magusch aus dem Ozean zurückkehrte, um ihren scheidenden Freunden nachzuwinken, vermutete er, daß die Röte in ihren Augen nicht nur vom Salzwasser rührte.
Er nahm ihren Umhang von den Steinen, auf denen sie ihn liegengelassen hatte, legte ihn ihr um die zitternden Schultern und zog sie fest an sich. »Weißt du, wenn du das öfter machst, holst du dir mit Sicherheit eine abscheuliche Erkältung«, tadelte er sie sanft.
Aurian schaute der glatten, immer kleiner werdenden Gestalt des Leviathans sehnsüchtig nach. »Es wäre die Sache wert«, sagte sie leise.
24
Linkshänder
Zanna fügte sich so leicht wieder in die alte Routine und Kameradschaft, die in dem Versteck der Nachtfahrer herrschten, als wäre sie nie fort gewesen. Zuerst war Remana ihr gegenüber sehr kühl, aber ihr Zorn entsprang größtenteils der Sorge, die in den vergangenen Wochen an ihr genagt hatte. Als die Matriarchin der Schmuggler herausfand, welche Rolle Zanna bei Vannors Rettung gespielt hatte, taute sie auf der Stelle auf, und die beiden wurden wieder Freundinnen, wobei Remana Zanna, wie schon zuvor, wie die Tochter behandelte, die sie selbst nie gehabt hatte. Es gab viele Freundschaften zu erneuern – die wichtigste und köstlichste davon war das Wiedersehen mit ihrem Pony Piper. Zur Zeit waren alle Schmugglerponys unten in der Höhle, wo sie vor dem schrecklichen Wetter Schutz fanden, und so war es ihnen nicht schwergefallen, ihre Bekanntschaft zu erneuern.
Zanna verbrachte viel Zeit mit Piper – soviel Zeit, wie sie von der Pflege Vannors erübrigen konnte, der nach den schrecklichen Stunden im Sturm einen schweren Rückfall erlitten hatte. Er hatte sich in der eisigen Kälte und Nässe des Meeres eine schwere Erkältung zugezogen, aber unter Remanas liebevoller und Benziorns gewissenhafter Pflege und mit Hilfe des blonden Mädchens Emmie wurde er langsam wieder kräftiger. Zanna hoffte, Tarnals Angebot, mit ihr auszureiten, schon bald annehmen zu können – vorausgesetzt, das Wetter besserte sich.
Wenigstens würde sie auf diese Weise einmal von Yanis wegkommen, dachte Zanna verdrossen. Er trieb sie zur Verzweiflung, indem er sich den ganzen Tag in Vannors Kammer herumdrückte und Emmie mit großen Schafsaugen anstierte – wobei die Fremde, um ehrlich zu sein, seine Aufmerksamkeit überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Zanna fühlte sich auf seltsame Weise zu dem ernsthaften Mädchen mit den traurigen Augen hingezogen, die nach Remanas Bericht älter war, als sie aussah, und sowohl ihren Mann als auch ihre beiden Kinder infolge Miathans Grausamkeiten verloren hatte. Danach empfand Zanna großes Mitleid für sie, und außerdem wußte sie von ganzem Herzen zu schätzen, was Emmie für ihren Vater tat – und doch sollte sie die ältere Frau eigentlich wegen ihrer Schönheit hassen und dafür, daß sie Yanis von ihr selbst ablenkte.
Andererseits hatte Zanna während der Zeit, die sie zusammen in Hebbas Haus eingepfercht waren, festgestellt, daß sie das gedankenlose, selbstsüchtige Benehmen des Anführers der Nachtfahrer in zunehmendem Maße erzürnte. Außerdem war er nicht besonders klug – das hatte sie schon vorher gewußt, aber damals hatte es sie nicht gestört. Zanna errötete jedesmal, wenn sie sich daran erinnerte, daß sie ihrem Vater vor einigen Monaten erzählt hatte, daß sie die Absicht hätte, Yanis zu heiraten. Was für eine Närrin sie doch gewesen war!
Bei all der Verwirrung war Tarnal der einzig feste Anker in ihrem Leben. Er schien immer da zu sein, wenn Zanna am dringendsten einen Freund brauchte, und sie war stets froh, ihn zu sehen. Auch bedeutete es ihr sehr viel, daß der junge Schmuggler ihrem Vater gegenüber, für den er großen Respekt hatte, stets so besorgt war. Wenn sie der Spannung müde war, die zwischen Emmie und dem Anführer der Nachtfahrer herrschte, freute sie sich jedesmal auf den Ausflug, den sie mit Tarnal unternehmen wollte. Es würde sicher eine Wohltat sein, eine Weile nichts von Yanis’ Dummheiten miterleben zu müssen. Und so wartete sie ungeduldig darauf, daß das Wetter besser wurde. Am Tag, nachdem der Sturm sich endlich gelegt hatte, nahm sie daher Tarnals Einladung zu einem Ausritt auf den Klippen dankbar an.
Warm eingepackt, damit der Wind ihr nichts anhaben konnte, der auf ihren glühenden Wangen brannte und ihr das kurzgeschorene Haar zerzauste, galoppierte Zanna mit ihrem Pony über die Klippen; sie und Tarnal ritten um die Wette, und ihr Ziel sollte der einsame, stehende Stein in der Ferne sein. Wie herrlich es war, wieder draußen an der frischen Luft zu sein! Piper schien es genauso zu ergehen – das Pony war nach seiner langen Gefangenschaft in der Höhle voller Energie und brauchte diesen Ritt, um seiner Unruhe Herr zu werden. Die Wirkung auf Zanna schien die gleiche zu sein, denn als sie am Fuß des Hügels, auf dem der großen Stein stand, angelangt war – so nah wie man sich auf einem Pferd an den Stein heranwagen durfte, da die Tiere sich vor dem finsteren Megalithen fürchteten –, fühlte sie sich so glücklich und frei wie schon lange nicht mehr.
Lachend drehte sie sich zu Tarnal um, der hinter ihr herangaloppierte. »Ich habe gewonnen!« jubilierte sie. »Dieses fette Vieh, das du da reitest, muß schon seine Hufe schwingen, wenn es meinen Piper schlagen will …« Zanna brach plötzlich ab, als etwas – eine lange, dunkle, unvertraute Gestalt draußen auf dem Meer – ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war auf keinen Fall ein Schiff, obwohl es groß genug dafür wäre, und nach der Art, wie es sich bewegte, schien es lebendig zu sein. »Tarnal, was, um alles auf der Welt, ist das denn?« rief sie und zeigte mit dem Finger aufs Meer.
»Es sieht aus wie ein Wal.« Der Nachtfahrer runzelte verwirrt die Stirn. »Aber normalerweise ziehen die Wale niemals in diese Gewässer. Was tut er hier? Und warum ist er ganz allein? Außerdem, warum bleibt er die ganze Zeit an der Oberfläche? Meinst du vielleicht, er ist krank?«