Gemeinsam setzten sie sich auf die Klippen, nachdem sie von ihren Ponys abgestiegen waren, die jetzt ganz in der Nähe grasten.
Während sich das riesige Tier draußen auf dem Meer langsam der Küste näherte, bemerkte Zanna irgendwann, daß Tarnal nach ihrer Hand gegriffen hatte, aber es war ein so angenehmes Gefühl, daß sie keinen Versuch unternahm, ihre Hand wegzuziehen. Plötzlich spürte sie, daß seine Finger sich fester um die ihren schlossen. »Zanna …« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Bitte sag mir, daß ich keine Gespenster sehe. Ich bin sicher, daß da Leute auf dem Wal reiten.«
Seine Augen waren schärfer als ihre, aber nach ein paar Sekunden konnte Zanna die Gestalten auf dem Wal ebenfalls erkennen. »Das sind Leute! Aber wer könnte solche Macht über ein Geschöpf der Tiefe haben?« Sie drehte sich mit plötzlicher Panik zu dem Nachtfahrer um. »Tarnal – glaubst du, es ist der Erzmagusch? Was ist, wenn er uns gefunden hat?«
Fluchend riß Tarnal sie vom Boden hoch. »Schnell! Wir müssen zurück in die Höhle. Wir müssen unsere Leute warnen.«
Zanna warf sich auf Pipers Rücken und riß an den Zügeln. Das Tier bäumte sich überrascht auf, und dann stürmten sie zurück zum Versteck der Nachtfahrer.
Es war Sangra, die als erste die unverkennbare Gestalt des Megalithen entdeckte, der für die wenigen Glücklichen, die davon wußten, den Standort des geheimen Verstecks der Schmuggler kennzeichnete. »Da ist er!« rief sie. Parric erwachte benommen und rollte sich zur Seite, wobei er nur in letzter Sekunde verhindern konnte, daß er von dem geschwungenen Rücken des Leviathan hinunterrutschte. Sangra streckte die Hand aus, um ihm Halt zu geben, und er brachte sich leise fluchend in Sicherheit, bevor er sich aufsetzte und in die Richtung schaute, in die Sangra deutete.
»Du hast recht!« rief er. »Wer hätte gedacht, daß dieses Tier so schnell schwimmen kann? Das müssen wir unbedingt diesem elenden Mistkerl Idris erzählen, der uns mit dem löchrigen, alten Waschzuber, den er ein Schiff nennt, nach Süden gebracht hat!« Dann drehte er sich um und versuchte mit einem kräftigen Schütteln das Windauge zu wecken – was eine ganze Weile dauerte, da Chiamh den größten Teil der Nacht in angeregtem Gespräch mit Ithalasa verbracht hatte.
»Chiamh? Chiamh, wach auf, du Witzbold. Wir sind da!«
»Was? Schon?« murmelte Chiamh mit einem enttäuschten Unterton in der Stimme. Parric ignorierte ihn. Das Windauge war zwar ein netter Bursche und absolut harmlos, aber es war für ihn immer ein Fremder geblieben. Der Kavalleriehauptmann konnte es jedenfalls gar nicht erwarten, daß diese elende, abscheuliche, nasse, unbequeme, langweilige Reise endlich ein Ende nahm. Plötzlich erinnerte er sich daran, wo er sich befand, und versuchte hastig, diese Gedanken zu unterdrücken, falls der Leviathan irgendwie in der Lage sein sollte, ihn zu hören. Parric verspürte nach wie vor größte Ehrfurcht vor dem gewaltigen Geschöpf.
»Könntest du unseren Freund wohl bitten, auf diesen stehenden Stein auf den Klippen zuzuhalten?« fragte er das Windauge hastig und mit ungewohnter Höflichkeit.
»Welche Klippen?« fragte Chiamh, der kurzsichtig zum Horizont blinzelte. Parric seufzte. Das war ein Problem, mit dem er nicht gerechnet hatte.
»Weißt du«, sagte Sangra sanft, denn sie mochte das Windauge sehr, »du solltest die Lady Aurian fragen, ob sie dir mit ihren heilenden Kräften nicht helfen könnte, wieder richtig zu sehen.«
»Wir haben darüber gesprochen«, erwiderte Chiamh, »und sie hat es mir angeboten – aber ich fürchte, daß ich möglicherweise meine Andersicht verliere, wenn sie mir mein normales Augenlicht zurückgibt. Und ich wage es nicht, dieses Risiko einzugehen.«
»Darüber könnt ihr euch ein andermal unterhalten«, unterbrach Parric die beiden ungeduldig. Er sah bereits, daß der Leviathan langsam vom Kurs geriet. »Wie kriegen wir ihn jetzt dazu, uns wirklich zu den Nachtfahrern zu bringen?«
»Nun ja, da weder der Leviathan noch ich diesen Stein da sehen können, müßt ihr uns führen«, erwiderte Chiamh gutmütig. »Sagt mir nur, ob wir nach links oder nach rechts steuern müssen und wann es einfach geradeaus geht. Ich gebe die Anweisungen dann an Ithalasa weiter.«
Das war nicht gerade die perfekte Lösung, aber irgendwie schafften sie es – und es dauerte nicht mehr lange, da konnte Parric auch schon die tiefe Bucht mit ihren zerklüfteten Riffs in den Klippen erkennen, die die Höhlen der Nachtfahrer vor neugierigen Blicken verbargen. »Dank den Göttern, daß wir endlich wieder zu Hause sind«, sagte er nachdrücklich, »womit ich natürlich nichts gegen eure Südländer sagen wollte«, fügte er dann hastig an das Windauge gewandt hinzu. »Aber zu Hause ist – na ja, zu Hause eben, wenn du verstehst, was ich meine.«
Chiamh seufzte. Als Ausgestoßener unter den Xandim hatte er niemals das Gefühl gehabt, irgendwo hinzugehören – nicht, bis diese Fremdländer aus dem Norden erschienen waren. Plötzlich fragte er sich, was geschehen würde, wenn Aurian ihre Feinde bezwungen und ihre Mission vollendet hatte. Was sollte er dann tun? Es gab kein Zurück mehr für ihn an den Ort, von dem er gekommen war. Für das Windauge sah die Zukunft unerträglich einsam aus.
»Du wirst es schaffen«, durchdrang die freundliche Stimme von Ithalasa Chiamhs trostlose Gedanken. »Wer weiß, was das Schicksal für dich bereithält? Aber was auch geschieht und wo immer du auch hingehen wirst, Aurian und Anvar werden dich stets willkommen heißen. Außerdem…«, Ithalasa kicherte, »durch irgendeine seltsame Fügung des Schicksals haben sich in der Vergangenheit wohl einmal eure beiden Rassen untereinander vermischt, so daß du über einige Kräfte der Magusch verfügst, und nach dieser traurigen Sache werden wahrhaftig nur noch wenige von ihnen übrig sein. Ist es da nicht deine Pflicht, eine Gefährtin zu finden und Kinder zu zeugen, um diese Kräfte nicht aussterben zu lassen?«
Dann wechselte der Leviathan plötzlich das Thema – was auch gut war, da Chiamhs Gedanken bei dieser unerwarteten Aussicht völlig durcheinandergeraten waren.
»Windauge, ich komme an diesen Riffs, die dein Ziel bewachen, nicht vorbei. Würdest du die Menschen bitte fragen, was ich jetzt tun soll?«
Parric fluchte, als Chiamh ihm die Nachricht übermittelte. »Es sieht so aus, als müßten wir schwimmen.«
»Mach dir nichts draus«, meinte Sangra, »wir sind doch sowieso schon naß – eine weitere Begegnung mit dem Wasser spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Das weiß ich – aber wie ein verwaschenes Stück Strandgut in der Nachtfahrerhöhle aufzutauchen, das ist nicht gerade die triumphale Heimkehr, die ich mir vorgestellt hatte«, brummte der Kavalleriehauptmann. »Außerdem wird es Tage dauern, bis meine Ausrüstung wieder trocken ist – dieses verfluchte Seewasser macht mir meine ganzen Messer kaputt.«
Traurig verabschiedete sich Chiamh von Ithalasa und übermittelte ihm auch die Abschiedsworte und den Dank der beiden anderen. Dann ließ er sich zum letzten Mal über die geschwungenen Flanken des Leviathans ins Wasser gleiten und gesellte sich zu Parric und Sangra in den eisigen Ozean. Sobald sie ein gutes Stück von ihm entfernt waren, drehte Ithalasa sich um und steuerte wieder auf das offene Meer hinaus, wobei er schnell untertauchte und nur noch einmal mit seinem eleganten, machtvollen Schwanz zum Abschied die Oberfläche aufwühlte. Das Windauge sah ihm wassertretend nach, bis der Leviathan ganz unter den Wellen verschwunden war. Er konnte nur beten, daß Ithalasa nicht von seinem eigenen Volk dafür zur Rechenschaft gezogen wurde, daß er Aurian und ihren Gefährten geholfen hatte. Aber Chiamh hatte wenig Zeit, über solche Dinge nachzudenken, denn sobald die müden Reisenden in das Labyrinth der Felsen hineinschwammen, die die kleine Bucht ausfüllten, wurden sie von ungezählten Pfeilen begrüßt, die mit immer größerer Genauigkeit von den Klippen über ihnen auf sie zuschossen.