Aber nun landete Cygnus mit heftigem Flügelschlagen und zu Aurians Erstaunen neben ihr. »Sei mir gegrüßt, Magusch. Ich komme von der Königin«, sagte er, »und biete dir an, euch nach Norden zu begleiten, wenn ihr mich dabeihaben wollt.«
»Aber natürlich! Ich würde mich sehr freuen, wenn du mit uns kämst«, erwiderte Aurian, die das plötzliche Auftauchen des geflügelten Mannes mit neuem Mut erfüllte. Vielleicht geht ja zur Abwechslung einmal alles gut, dachte sie.
Sie dachte noch immer so, als zwei Tage später drei geschmeidige Nachtfahrerboote am Horizont auftauchten, deren Segel in dem schwindenden Licht des Sonnenuntergangs aufblitzten. Aurian sah ihnen mit fiebriger Erwartung entgegen, ganz von dem Gedanken erfüllt, daß diese Schiffe in Kürze sie, ihre Gefährten und die Xandim nach Norden bringen würden. Um ihre Freude vollkommen zu machen, erkannte sie nun auch die Gedanken von Chiamh, die sich ihr quer über den Ozean hinweg grüßend entgegenstreckten.
Als die drei Schiffe endlich im Zwielicht des Abends vor Anker gingen, lief Aurian zusammen mit Anvar dem Windauge entgegen und lernte bei dieser Gelegenheit auch gleich Yanis, den Anführer der Nachtfahrer, kennen.
»Wir haben dich vermißt«, sagte Aurian zu Chiamh, nachdem sie ihn aus ihrer Umarmung entlassen hatte. »Aber du hättest diese weite Reise wirklich nicht noch einmal auf dich nehmen müssen, um uns abzuholen.«
»Aber ich habe es getan«, erwiderte Chiamh lächelnd. »Ich habe euch Magusch nämlich auch vermißt, und außerdem brauchten wir jemanden, der die Schiffe hierherführte. Parric und Sangra meinten, sie hätten für den Rest ihres Lebens genug vom Meer – du hast sicher Verständnis dafür, wenn ich darauf verzichte, an dieser Stelle all ihre Flüche wiederzugeben«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. »Aber hier ist noch jemand, der mitkommen wollte, um dich zu sehen.«
Er machte eine knappe Geste mit der Hand, und Aurian fand sich plötzlich Vannors Tochter gegenüber, die zusammen mit einem blonden, jungen Nachtfahrer von einem der anderen Schiffe herbeigerudert war.
»Ho, Zanna!« Die Magusch lief den Strand hinunter auf das Boot zu und staunte darüber, wieviel reifer und unabhängiger das junge Mädchen seit ihrer letzten Begegnung auf dem Markt in Nexis geworden war. »Was ist aus deinem Kristall geworden?« fragte Aurian, während sie Zanna half, das Boot auf den Kiesstrand zu ziehen. »Seit du in jener Nacht mit mir gesprochen hast, habe ich mich gefragt, ob du Miathan und Eliseth wohl entkommen bist.«
»Ich habe den Kristall in den Katakomben verloren«, entschuldigte sich Zanna, während sie mit der Leichtigkeit langer Übung aus dem Boot kletterte. Sie hatte sich darauf gefreut, die Magusch wiederzusehen. Als sie nun sah, daß sich Aurian das Haar ebenfalls abgeschnitten hatte, öffnete sich der Mund des Mädchens weit vor entzücktem Erstaunen. Wenn sie sich in solcher Gesellschaft befand, brauchte sie sich wegen ihrer eigenen, kurzgeschorenen Haare keine Gedanken mehr zu machen!
Die Schiffe sollten mit der Morgenflut lossegeln, aber in dieser Nacht bekam keiner von ihnen viel Schlaf. Der Gemeinschaftsraum der Fischer war von ungezählten Gesprächen erfüllt, während sich Yanis’ Mannschaft mit den einheimischen Xandim unterhielt. (Aurian hatte das Gefühl, daß die Nachtfahrer ihre Wirtschaftsbeziehungen ausdehnen und bald zurückkehren würden – und die Magusch erzählten ihre eigene Geschichte und wurden ihrerseits auf den neuesten Stand gebracht, was die Ereignisse im Norden betraf.)
Als die Schiffe schließlich in dem weichen, blauen Licht der Morgendämmerung ablegten, stand Aurian neben Anvar am Bug. »Erinnerst du dich an das letzte Mal, als wir so zusammen gereist sind?« fragte Anvar leise. »Als wir damals aus Nexis flohen, hätten wir uns wirklich nicht vorstellen können, was für unglaubliche Dinge vor uns lagen.«
»Oder daß wir so wunderbare Freunde finden würden.« Aurian sah das Windauge an, das kurzsichtig der langsam schwindenden Xandimküste nachschaute; und dann fiel ihr Blick auf Shia und Khanu, die sich zum Schlafen auf einer Plane zusammengerollt hatten, direkt neben Wolf und seinen Zieheltern. Die Magusch stellte mit einiger Belustigung fest, daß die Nachtfahrer trotz aller Beteuerungen um diesen speziellen Bereich des Schiffes einen großen Bogen schlugen. »Ich hoffe, wir bekommen eines Tages die Chance, zurückzukehren«, fuhr sie fort, »vor allem, um Hreeza wiederzusehen – aber im Augenblick wünsche ich mir nichts sehnlicher, als wieder nach Hause zu fahren.«
»Es ist noch nicht vorbei«, erinnerte Anvar sie stirnrunzelnd.
»Nein«, pflichtete Aurian ihm bei. »Aber zumindest habe ich jetzt das Gefühl, als erzielten wir langsam Fortschritte. Und sobald wir das Schwert gefunden haben, wer weiß, was dann geschehen wird?«
Ihre Worte, wenn auch in aller Unschuld gesprochen, sandten Anvar einen Schauder angsterfüllter Vorahnungen über den Rücken.
Eliseth spie wilde Flüche und schleuderte den Kristall durchs Zimmer. »Sie ist wieder da! Ich glaube es nicht!« Aber es konnte keinen Zweifel geben. Sie hatte es in dem Kristall gesehen – und mit zunehmender Übung waren ihre hellseherischen Kräfte recht zuverlässig geworden. Die Wettermagusch begann, in ihrem Zimmer auf und ab zu laufen, während sie hektisch nachdachte. Es war schon eine schlimme Demütigung gewesen, daß ihr Vannor und seine Tochter entkommen waren. Ihr Gesicht trug die Verwüstungen weiterer zehn Jahre – das Zeichen von Miathans Zorn. Sie hatte die Absicht, ihm das alles eines Tages heimzuzahlen; aber jetzt, da Aurian zurückgekehrt war, blieb ihr nicht mehr viel Zeit dafür.
Eliseth hatte jedes Zutrauen in Miathans Fähigkeiten als Erzmagusch verloren. Mehr als einmal hatte er eine hervorragende Chance gehabt, Aurians Leben ein Ende zu bereiten, aber jedesmal hatte er sich geweigert, das zu tun. Und was war das Ergebnis? Diese verfluchte Abtrünnige und ihr abscheuliches Halbblut von einem Geliebten klopften praktisch schon wieder an die Tür des Maguschturmes!
Wenn ich nur den Kessel in meinen Besitz bringen könnte, dachte Eliseth verzweifelt. Nach Miathans schrecklichem Irrtum, der die Todesgeister entfesselt hatte, schien sich der Erzmagusch davor zu fürchten, das Artefakt zu benutzen. Wenn er doch nur gelernt hätte, es zu beherrschen! Sie hätte es mit Sicherheit getan, hätte der Kessel ihr gehört … Wenn er sich doch nur die Mühe gemacht hätte, ebenso viele Stunden in den staubigen, eiskalten Archiven zuzubringen, wie Eliseth es getan hatte, um die uralten, halb unleserlichen Schriftrollen zu entziffern und herauszufinden, welche Kräfte der Kessel besaß … Urplötzlich hörte die Wettermagusch auf, durchs Zimmer zu laufen. Nun, warum eigentlich nicht? dachte sie. Warum sollte er nicht mir gehören? Habe ich ihn mir nicht verdient? Würde ich ihn nicht viel besser nutzen können? An diesen sabbernden, alten Narren ist er doch verschwendet.
Aber an dieser Stelle beendete ihr gesunder Menschenverstand ihren Gedankengang. Dieser Narr war noch keineswegs zu alt und zu schwach, als daß er ihr Lebenslicht nicht wie eine Kerze auslöschen könnte, wenn sie sich ihm in den Weg stellte. Eliseth nahm ihren wilden Marsch durch das Zimmer wieder auf. Nach einer Weile fiel ihr Blick auf den Stapel mit Schriftrollen, den sie aus der Bibliothek mitgenommen hatte, um ihre Studien mit einem gewissen Maß an Bequemlichkeit fortsetzen zu können. Der erste Ansatz eines Planes begann sich in ihren Gedanken zu formen …
Miathan schaute mit einer Mischung aus Überraschung und Ärger auf, als die Wettermagusch ohne anzuklopfen in sein Gemach trat. Was dachte sie sich bloß dabei? Es war noch immer geradezu abscheulich früh am Morgen – um genau zu sein, hatte er noch gar nicht geschlafen, da er es sich in diesen Tagen angewöhnt hatte, die Nacht in der geruhsamen Einsamkeit seines Gartens zu verbringen und nachzudenken. Er hatte gerade vorgehabt, zu Bett zu gehen, als Eliseth aufgetaucht war, um ihn zu stören.