»Ich weiß.« Irgendwoher nahm Aurian die Kraft, um diese wenigen Worte auszustoßen. »Aber solange der Schild hält …« Aber der Schild begann bereits nachzugeben. Verzweifelt wurde Aurian klar, daß ihnen nur noch wenige Augenblicke blieben …
Als D’arvan den Waldrand erreichte, konnte er schon das Sirren der Pfeile hören. Der Gestank böser Magie warf ihn beinahe von den Beinen. Noch immer außer Atem, begriff er plötzlich, was sich da vor seinen Augen abspielte. Aurian – es war wirklich Aurian, die aus dem Süden zurückgekehrt war, und neben ihr standen Anvar und Parric … Und bei allen Göttern, das war tatsächlich Vannor – eindeutig der Kaufmann selbst und nicht irgendeine Illusion. Er war ausgesprochen lebendig und schrie dem unnachgiebigen Wald, der ihm den Eintritt verwehrte, erbitterte Flüche entgegen. Aber wer waren die Fremden, die mit ihnen gekommen waren? Egal. Der Blick des Magusch wanderte zu Eliseth, in deren Augen Haß und Triumph aufflackerten, während sie Aurians langsam in sich zusammenbrechenden Schild attackierte …
D’arvan handelte sofort und rief dem Wald einen Befehl zu. Die Bäume, die den Kampf, der sich zu ihren Füßen abspielte, mit einiger Beklommenheit beobachtet hatten, leisteten Widerstand. Also schlang der Magusch seine Finger fest um den Stab der Lady Eilin und sandte seine ganze Macht aus, bis er spürte, wie sich der Wald langsam und widerstrebend seinem Willen beugte.
Ungläubig betrachtete Vannor die sich weitende Kluft zwischen den Bäumen. Sein Herz machte einen wilden Satz. »Kommt!« rief er den zusammengekauerten, verängstigten Xandim zu. »Hier entlang – schnell!« Sie brauchten keine zweite Aufforderung. Vannor mußte schnell zur Seite springen, als sie an ihm vorbei dem Schutz des Waldes entgegenrannten. Nur Parric, die Katzen, Chiamh, Yazour und Iscalda blieben zurück.
Eliseths Gesicht verzerrte sich vor Wut zu einer häßlichen Maske, als sie sah, daß ihre Pläne durchkreuzt waren. Angestachelt und vorwärtsgetrieben von ihrem Zorn, nahm die Wucht ihrer Blitze noch weiter zu.
Vannor, der begriff, daß sich die Magusch und ihre beiden Pferde nicht zurückziehen konnten, bevor alle in Sicherheit waren, drängte die Zögerlichen unter Aurians Gefährten zur Eile. »Macht schon, ihr verdammten Narren!« brüllte er. »Steht nicht einfach da rum – ihr haltet alle auf!«
Glücklicherweise sahen sie ein, daß er recht hatte, und gehorchten ihm widerstrebend. Shia blieb neben Vannor stehen, um auf Aurian zu warten. Auch Chiamh wartete. »Wenn ich mich verwandle, steig schnell auf meinen Rücken«, sagte er zu dem Kaufmann. »Ich werde dich in Windeseile von unseren Feinden wegbringen.«
Sobald sich alle anderen sich hastig in Sicherheit gebracht hatten, stieg Vannor auf Chiamh, der sich noch einmal vom Waldrand abwandte. »Aurian, Anvar – jetzt!« schrie der Kaufmann. »Alle sind in Sicherheit. Kommt her zu uns!«
Schiannath und Esselnath machten auf der Stelle kehrt und galoppierten Seite an Seite der Sicherheit des Waldes entgegen. Hinter ihnen brach der Schild in einem letzten Funkenschauer zusammen, und ein sengender Lichtstrahl riß den Rasen unter ihren Hufen auf.
Als Eliseth sah, daß ihre Opfer entkamen, stieß sie einen schrillen Zornesschrei aus. Sie gab ihrem Pferd die Sporen, um Aurian und Anvar zu folgen, ließ Donner und Flüche auf die beiden Flüchtlinge niederprasseln, aber es war bereits zu spät. Die Bäume des Waldes schlossen sich schnell wieder, ihre Zweige verwoben sich ineinander, und eine undurchdringliche Schranke aus Dornen und Stacheln sprang aus dem Nichts und versperrte Eliseth den Weg. Fluchend wandte sich die Wettermagusch ab und sah deshalb auch die beiden Wölfe nicht, die einen Bogenschuß von ihr entfernt hinter einem Ginsterbusch Zuflucht gesucht hatten. Das Weibchen hielt ein sehr kleines Wolfsjunges im Maul, das sie vorsichtig an der lockeren Haut seines Nackens gepackt hatte. Lautlos glitten sie in den Wald hinein, um Aurians Spur zu folgen. Die Bäume teilten sich, um sie durchzulassen, bevor sie sich eilig wieder hinter ihnen schlossen.
Noch immer zitternd nach ihrer Flucht, die auf des Messers Schneide gestanden hatte, traten die Kameraden in die schattigen Tiefen des Waldes ein; zu erschöpft um zu reden, zu ängstlich, um stehenzubleiben, folgten sie dem gut begehbaren Weg, der sich vor ihnen geöffnet hatte. Am Rande des Tales selbst, wo sich ein Wildbach aus dem Moorland zwischen den Bäumen hindurchschlängelte und in einer schimmernden Kaskade die schwarzen Wände des Kraters hinunterstürzte, machte D’arvan eine Lichtung für die Flüchtlinge bereit, so daß sie an dieser Stelle zusammentreffen und ein wenig ausruhen konnten, bevor sie sich an den letzten Abstieg ins Tal wagten. Dann trat er ein Stück von der Lichtung zurück, unsichtbar für die Xandim, die sich dort zusammenscharten, und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Magusch.
Als Aurian und Anvar auf dem Rücken zweier Pferdeleute, die sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten konnten, auf die Lichtung gelangten, ließen sie sich von ihren Reittieren hinuntergleiten, um Schiannath und Esselnath die Möglichkeit zu geben, wieder Menschengestalt anzunehmen.
»Der Göttin sei Dank!« Schiannath strich sich eine Locke dunklen Haares aus der verschwitzten Stirn. »Ich muß zugeben, daß ich da draußen das ein oder andere Mal wirklich Angst bekommen habe.«
»Rudelfürst, du warst ein wahrer Held.« Aurian umarmte ihn. »Wärt ihr beide, du und Esselnath, nicht so mutig gewesen, allem standzuhalten, womit Eliseth euch traktiert hat, hätten Anvar und ich niemals unsere Schilde aufrechterhalten können. Wir wären alle gestorben. Wir verdanken euch unser Leben.«
»Wie wir euch das unsere verdanken, Herrin, denn ohne eure Schilde hätten wir erst gar keine Chance gehabt«, erwiderte Schiannath ernst. »Da wir nur dich und Anvar kennen, abgesehen von dem Windauge, war mir niemals klar, wie mächtig magische Kräfte sein können, wenn sie sich dem Bösen zuwenden. Ich bin bereitwillig mit euch gezogen, um euch zu helfen, aber heute habe ich zum ersten Mal wirklich begriffen, wie lebenswichtig unsere Mission ist, um das Schicksal der Welt zu retten.«
Als die Pferdeleute zu dem Strom hinübergingen, um zu trinken, umarmten Aurian und Anvar einander in wortloser Erleichterung, aber sie wußten, daß ihre Atempause nur kurz sein würde. »Was glaubst du, wieviel Zeit wir haben?« fragte Anvar seine Seelengefährtin.
Aurian zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Der Wald schien ziemlich fest entschlossen zu sein, Eliseths Truppen draußenzuhalten, aber wir haben es hier mit einer bösartigen Magusch zu tun – und jetzt hat sie auch noch den Kessel. Wie ich sie kenne, glaube ich nicht, daß der Wald sie lange aufhalten kann.«
»Da ist eine Sache, die mich verwirrt«, murmelte Anvar stirnrunzelnd. »Wenn Eliseth den Kessel hat, was ist dann aus Miathan geworden? Er hätte ihr niemals freiwillig eine solche Macht überlassen. Was hat sie also mit ihm angestellt? Und wie hat sie das geschafft? Er muß noch leben, denn sonst hätten wir seinen Tod gespürt.« Er schnitt eine Grimasse. »Was für eine Ironie es doch wäre, wenn wir uns am Ende gezwungen sähen, den Erzmagusch vor Eliseth zu retten.«
»Wenn wir das tun«, erwiderte Aurian grimmig, »dann sollte Miathan besser darum beten, daß er jemanden findet, der ihn anschließend vor uns rettet.«
Hastig begann Aurian nun, die Verwundeten zu heilen, die von den ersten Pfeilen der Feinde getroffen worden waren, und dachte währenddessen traurig an die drei, die nicht mehr bei ihnen waren. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich schwermütigen Gedanken hinzugeben.
Sobald die Magusch alle versorgt hatte, rief sie Anvar und ihre übrigen Gefährten zusammen. »Die Zeit drängt, und wir können nicht länger hierbleiben«, erklärte Aurian ihnen; sie mußte ihre Stimme über einen allgemeinen Chor von Fluchen und Stöhnen erheben. »Vannor, Parric und Sangra – ihr nehmt die Hälfte unserer Streitmacht und geht zum Rebellenlager. Bringt die Leute so schnell wie möglich zum See – wir treffen uns dort. Wenn Eliseth es schafft, in den Wald einzudringen, wollen wir sie auf keinen Fall in der Nähe des Schwertes haben – vor allem dann nicht, wenn ich versuche, es für mich zu beanspruchen. Anvar und ich werden zusammen mit Chiamh, Yazour und den Katzen sowie den übrigen Pferdeleuten ohne Umweg zur Insel gehen. Cygnus, ich möchte, daß du über dem Wald kreist, um uns über die Bewegungen des Feindes auf dem laufenden zu halten – und damit die beiden Gruppen miteinander Verbindung aufnehmen können, falls irgend jemand in Schwierigkeiten gerät. Jetzt teilt eure Leute schnellstens ein, damit wir die Sache hinter uns bringen.«