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»Warte!« Anvar bückte sich, um sie am Arm festzuhalten, »das könnte ein Trick sein!«

»Es ist kein Trick.« Maya schien sich ihrer eigenen Stimme seltsam unsicher zu sein. »Ich war der Wächter.« Ihre Stirn legte sich in Falten, und es kostete sie sichtbare Anstrengung, sich zu erinnern. »In Gestalt des Einhorns habe ich euch nicht erkannt.« Sie blickte voller Bedauern auf die Körper der Xandim, die im Gras lagen, und auf Shia, die sich noch immer ihre verletzte Seite leckte, bevor sie aufschaute, um Maya einen zornigen Blick zuzuwerfen. »All das tut mir so leid, aber ich konnte nicht anders. Mir blieb nichts anderes übrig, als euch anzugreifen. Hellorin hat mir aufgetragen, das Schwert zu verteidigen, aber er sagte, wenn ich für irgend jemanden außer D’arvan sichtbar würde, würde meine Wächterschaft enden und ich könnte wieder meine menschliche Gestalt annehmen. Er sagte, daß der Eine eine Möglichkeit finden würde, mich zu sehen.«

Sie wandte sich an Chiamh. »Bist du der Eine?«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte das Windauge entschieden. »Es ist Aurian – der Drache hat es ihr gesagt. Ich war nur derjenige, mit dessen Hilfe sie dich sehen konnte.«

»Aber wie war es möglich, daß du mich sehen konntest?« fragte Maya. »Niemand konnte mich sehen!«

Aurian hatte sich gerade dieselbe Frage gestellt.

»Oh, ich kann mit meiner Andersicht alle möglichen Dinge sehen«, erwiderte das Windauge fröhlich. »Ich kann selbst den Wind wahrnehmen, und ein Einhorn aus Licht sollte mir da keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten. Wenn ich nicht so kurzsichtig wäre, hätte ich dich früher gesehen und uns eine Menge Schwierigkeiten erspart.« Er seufzte sehnsüchtig. »Aber es tut mir leid, daß die anderen dich nicht sehen konnten. Du warst so unendlich schön …«

»Womit du wohl sagen willst, daß ich es jetzt nicht mehr bin«, fauchte Maya. »Na ja, jetzt ist wohl alles wieder so, wie es früher war.« Sie hielt Aurian die Hände hin. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen.«

Und Aurian lief ihrer Freundin entgegen, um sie in die Arme zu schließen.

»Wie weit ist es denn noch bis zu diesem verfluchten See?« murmelte Eliseth gereizt. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, einen Eingang zwischen den Bäumen zu finden, schien sie nun schon seit einer Ewigkeit durch diesen düsteren Wald zu streifen. Außerdem hatten ihre törichten Begleiter sich offensichtlich verirrt – aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Sie hatten ihren Zweck erfüllt, und nachdem Eliseth den Wald bezwungen hatte, fühlte sie sich wieder siegesgewiß. Mit Hilfe des umgestalteten Kessels stand ihr eine solche Macht zu Gebote …

Eliseth zog den angelaufenen Kelch aus der Tasche ihres Gewandes und sah ihn nachdenklich an. Wer hätte gedacht, daß ein so kleines Ding eine solche Macht besitzen könnte? Und jetzt wurde der Kelch von irgend etwas angelockt und auf den See zugezogen. Konnte es sein, daß dort noch ein anderes Artefakt verborgen war? Das würde sicherlich erklären, wie es kam, daß diese elende Eilin genug Macht gehabt hatte, um Davorshan zu ermorden. Eliseth runzelte die Stirn. Nun, sie würde es bald herausfinden. Sie hatte eines der Artefakte seinem rechtmäßigen Besitzer gestohlen; es sollte nicht weiter schwierig sein, noch eins zu stehlen, vor allem nicht von Eilin. Jedenfalls würde es nicht weiter schwierig sein, wenn sie nur diesen verfluchten See endlich fände …

Sie war auf dem schmalen, gewundenen Pfad noch nicht viel weiter gekommen, als sie die Hilfeschreie hörte. Eliseth gab ihrem schweißnassen Pferd noch einmal die Sporen und sah, als sie um eine Ecke bog, eine vertraute Gestalt, die hilflos in den Zweigen eines Baumes hing, welche sich immer fester um sie zuzogen.

»Bern!« fauchte die Wettermagusch. »Was, zum Teufel, hast du hier zu suchen? Ich habe dir befohlen, bei den Rebellen zu bleiben.«

»Das wollte ich ja auch«, jammerte Bern. »Aber als sie das Feuer sahen, wollten sie das Lager verlegen. Ich wußte, daß du es sein mußtest, Herrin, und ich wollte dich warnen. Bitte hol mich hier herunter.«

»Du hättest sie begleiten sollen, du Narr!« sagte Eliseth. »Woher soll ich jetzt wissen, in welche Richtung sie gehen?«

Dennoch drehte sie sich zu dem Baum um und hob mit einer drohenden Geste die Hand. »Laß ihn runter«, fauchte sie, »sonst …«

Mit einem vernehmlichen Aufprall fiel Bern, der vor Erleichterung den Tränen nahe war, zu Boden. »Oh, ich danke dir, Herrin!« Er stand mit einiger Mühe wieder auf und schien plötzlich nicht mehr weiterzuwissen. »Was machen wir jetzt?«

»Nun, ich gehe zum See, du elender Sterblicher«, herrschte Eliseth ihn an. »Wenn du mit mir kommen willst, mußt du sehen, daß du mit mir Schritt hältst – ich werde nicht auf dich warten. Ich habe langsam genug davon, durch diesen verfluchten Wald zu irren.« Sie runzelte die Stirn. »Wenn die Bäume mich nicht endlich durchlassen, werde ich sie verbrennen, wie ich es mit den anderen auch getan habe.«

»Aber das ist doch gar nicht nötig, Herrin«, wandte Bern ein. »Sieh nur – der Weg ist direkt da drüben.«

Die Wettermagusch drehte sich um, schaute in die Richtung, in die er zeigte, und fluchte heftig. »Der Weg war vorher nicht da. Bist du sicher, daß er der richtige ist?«

»Er führt in die richtige Richtung, Herrin. Wenn du mir folgst, führe ich dich hin.«

Eliseth zuckte mit den Achseln. Nun, das war immer noch besser, als pausenlos durch den Wald zu irren, wie sie es bisher getan hatte.

»Dann geh schon«, sagte sie zu Bern. »Und beeil dich! Außerdem solltest du eines nicht vergessen – wenn du mich in die Irre führst, werde ich dafür sorgen, daß es dir leid tut.«

»Keine Sorge, Herrin – ich kenne den Weg.« Mit diesen Worten ging er los und stolperte mühsam vor ihr her über den Waldweg. Eliseth zuckte noch einmal mit den Achseln und folgte ihm.

Aurian ging langsam über die Brücke, und ihre Schritte hallten hohl auf den Holzplanken wider. D’arvan sah sie vom Seeufer aus, wo er das kleine Wolfsjunge einen Augenblick zuvor sicher abgesetzt hatte. Sein Herz machte vor Erleichterung einen Sprung, als er am Ufer in einer Traube von Leuten seine Maya entdeckte, gesund und munter – und wieder in menschlicher Gestalt. Bisher also hatte Aurian Erfolg gehabt. Das hätte er sich eigentlich denken können. Aber der nächste Teil – das Erringen des Schwertes – würde sich als schwieriger erweisen. Ängstlich eilte er zu ihnen und erinnerte sich plötzlich daran, daß sie ihn nicht sehen konnten. Bei den Göttern, es war so lange her … Also unterdrückte er einen Freudenschrei und begann zu laufen; das Wolfsjunge, das auf sich allein gestellt ins Gebüsch gewandert war, hatte er ganz vergessen.

Cygnus kreiste über dem See und erblickte die kleine Gruppe von Zuschauern an der Brücke. Dort war Aurian, die ganz allein auf die Insel zuging – und dort Anvar, der ein kleines Stück von den anderen entfernt am Rand des hölzernen Brückenbogens stand und seinen Blick fest auf die immer kleiner werdende Gestalt der Magusch geheftet hatte. Er war jetzt allein und obendrein abgelenkt… Cygnus lächelte. Endlich war seine Chance gekommen, die Harfe der Winde an sich zu bringen! Also schoß der geflügelte Mann in einer steilen Kurve auf sein ahnungsloses Opfer zu.

Vannor führte seine Rebellen aus dem Wald heraus und sah die Szene, die sich an der Brücke abspielte. Was, um alles in der Welt, taten die Magusch da? War das Schwert irgendwo auf der Insel versteckt? Dann versetzte Parric ihm einen Stoß in die Rippen. »Vannor – da drüben!«

Der Kaufmann schaute über den See und sah, daß Eliseth am anderen Ufer zwischen den Bäumen hervortrat. Sie schien ungefähr genausoweit von der Brücke entfernt zu sein wie er. Vannor fluchte. Es hatte keinen Sinn, seinen Freunden eine Warnung zuzurufen. Sie würden ihn aus dieser Entfernung wahrscheinlich nicht hören, und außerdem konnte es möglicherweise verheerende Auswirkungen haben, wenn er Aurians Konzentration in diesem Augenblick störte.

»Komm – wir müssen Anvar warnen«, sagte er zu dem Xandim, den er ritt, und das Pferd galoppierte los, gefolgt von den übrigen Rebellen. Eliseth auf der anderen Seite des Sees hatte sie jetzt ebenfalls erblickt und ihrem Pferd die Sporen gegeben. Aber wer von ihnen würde sein Ziel als erster erreichen?