Выбрать главу

»Ach du liebe Güte, Mädchen – du siehst ja aus wie ein Gespenst! Hier – sieh zu, daß du was zwischen die Rippen kriegst.« Emmie zuckte zusammen. Sie mußte wirklich in Gedanken versunken gewesen sein, denn sie hatte niemanden hereinkommen hören. Eine rauhe, kräftige, von Arbeit gerötete Hand erschien, und eine Suppentasse wurde ohne weiteres Zeremoniell vor Emmie auf den Tisch gestellt. Sie blickte auf und sah Remana vor sich, die Mutter von Yanis, dem Anführer der Nachtfahrer.

Die Frau zog sich die Bank auf der anderen Seite des Tisches heraus und ließ sich müde auf die harte hölzerne Sitzfläche fallen. Obwohl sie ebenfalls zum Umfallen erschöpft war, brachte sie ein ermutigendes Lächeln für das junge Mädchen zustande. »Hast du die Sache denn jetzt geregelt?« erkundigte sie sich und nahm vorsichtig einen Schluck aus ihrem eigenen dampfenden Becher. »Und warum hat Jarvas sich nicht darum gekümmert?«

Emmie zuckte mit den Schultern. »Es war ja nur eine von vielen Streitereien, was die Unterkunft betrifft«, erwiderte sie. »Jarvas hat geschlafen – ich habe ihn schließlich in einer Ecke gefunden, aber es sah so aus, als wäre er da, wo er saß, einfach umgekippt. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn zu wecken – der Verlust seiner Zufluchtsstätte hat ihn hart getroffen. Ich habe es geschafft, die undankbaren Narren unterzubringen, und das ohne weiteres Blutvergießen.« Von irgendwoher schlich sich die Andeutung eines Lächelns auf ihre Lippen. »Glücklicherweise haben die Leute hier alle großen Respekt vor Sturm.«

Die Hündin, die ihren Namen gehört hatte, winselte kurz auf, und Remana streichelte ihren breiten weißen Kopf. Dem Tier war die Berührung der fremden Hand nicht recht geheuer – aber es hatte bereits beschlossen, daß die Nachtfahrerfrau wohl in Ordnung sein mußte, da sie schließlich eine Freundin ihrer Herrin war. Langsam begann der buschige weiße Schwanz hin und her zu wackeln – dann tauchte eine große schwarze Nase an der Tischkante auf, um hoffnungsvoll Remanas Becher zu beschnuppern. »Immer schön langsam!« Remana kicherte und brachte ihre Suppe in Sicherheit. »Das ist das erste, was ich heute überhaupt zu essen bekomme!« Dann wandte sie sich wieder an Emmie. »Merk dir meine Worte, das Tier wird noch mal eine richtige Schönheit! Alles, was es braucht, ist ein bißchen Fleisch auf den Rippen …«

Emmie sah den Schatten eines Stirnrunzelns über Remanas Gesicht ziehen. »Das Problem ist – es wird nicht genug zu essen geben, nicht wahr?« wollte sie von der Nachtfahrerfrau wissen.

»Oh, wir werden schon zurechtkommen – mach dir da mal keine Sorgen.« Remanas fröhliche Worte konnten Emmie nicht im geringsten täuschen. »Und wie, bitte?« fragte sie unverblümt. Seit der zerlumpte Haufen von Flüchtlingen aus Nexis vor zwei Tagen angekommen war, hatten sich die Dinge im Versteck der Schmuggler vom Schlechten zum Schlimmeren gewandelt. Das geheime Netzwerk der Höhlen war den hungrigen und erschöpften Flüchtlingen zuerst wie ein Paradies erschienen, denn hinter ihnen lag das Entsetzen über den Angriff auf ihr Heim, der höllische Weg in die Freiheit durch die Abwasserkanäle unter der Stadt und die Kälte und Enge während ihrer gefährlichen Reise zu dem Schlupfwinkel der Nachtfahrer. Das Schiff, das sie benutzt hatten, war so überladen gewesen, daß bei jeder Welle die Gefahr bestand, daß die Dollborde überschwemmt wurden. Für die Nexianer jedoch war die Erleichterung über ihre Rettung nur von kurzer Dauer gewesen.

Gut und gern sechzig Leute aus der Stadt waren mit dem Leben davongekommen, und die Schmugglerhöhlen waren auf einen solchen Zustrom von Menschen nicht eingerichtet. Das Ergebnis war ein unglaubliches Chaos gewesen. Emmie, Remana und Jarvas, der Anführer der Flüchtlinge, hatten sich alle Mühe gegeben, ausreichend Platz zu finden, um die Nexianer irgendwo unterzubringen, während die armen, ahnungslosen Schmugglerfamilien die Invasion mit Entsetzen betrachteten. Um ehrlich zu sein, konnte Emmie ihnen kaum einen Vorwurf machen. Die Flüchtlinge besaßen nichts als die Lumpen, die sie am Leib trugen, und jeder einzelne von ihnen stank nach den Abwasserkanälen, durch die ihr Weg sie geführt hatte. Man mußte zusehen, daß sie ein Bad nehmen konnten und etwas zu essen erhielten, und die überlasteten sanitären Einrichtungen der Höhle, die auf das zweimal tägliche Anschwellen der Flut angewiesen waren, wurden schnell für alle unerträglich. Aber das schlimmste waren die Krankheiten.

Emmie seufzte und bedauerte zum tausendsten Mal, daß sie gezwungen gewesen waren, durch die Kanalisation zu fliehen. Es war wohl unvermeidbar gewesen, daß ihre Leute, wenn man ihren unterkühlten und halb verhungerten Zustand bedachte, eine leichte Beute für alle Seuchen waren, die in diesem schmalen stinkenden Tunnel unter dem Erdboden gediehen. Die meisten der Nexianer waren bereits von Gram und Entbehrungen schwer gezeichnet – denn es gab keine einzige Familie mehr, die nicht einen oder mehrere geliebte Menschen während des entsetzlichen Blutbads verloren hatten, das die Stadtwachen in ihrem Lager angerichtet hatten. Und viele von Jarvas’ Flüchtlingen zählten zu den besonders anfälligen Gruppen, die nicht in der Lage gewesen waren, sich selbständig in der Stadt zu helfen – die Alten, die ganz Jungen, die, die verkrüppelt waren oder unfähig zu arbeiten – und vor allem natürlich jene, die bereits an einer Krankheit litten.

»Verdammt!« Emmie schlug mit der Faust auf den Tisch und biß sich auf die Lippen, um nicht in Tränen der Erschöpfung und des Zorns auszubrechen. Seit dem Verlust des Arztes Benziorn bei dem Angriff auf die Zufluchtsstätte der Flüchtlinge war Emmie die einzige in Nexis gewesen, die überhaupt noch etwas von Heilung verstand. Mit Unterstützung von Remanas Kräuterweibern war sie während der vergangenen sechsunddreißig Stunden pausenlos auf den Beinen gewesen, hatte sich um die Kranken gekümmert und den anderen die wenigen Vorsichtsmaßnahmen erklärt, die ihnen noch blieben, um eine weitere Ausbreitung der Krankheiten zu verhindern – und natürlich hatte sie sich um die Bestattung der Toten gekümmert. Die vierzehn Leichen, von denen drei mitleiderregend klein waren, waren an diesem Abend mit dem Schiff hinausgebracht und im Meer versenkt worden. Diese vierzehn toten Menschen waren der endgültige Beweis für Emmies Scheitern – und das war es, was sie am meisten schmerzte.

»Tu das nicht.« Remanas starke Hand schloß sich um die ihre. »Du kannst nicht die Lasten aller Menschen auf deine Schultern nehmen, Mädchen. Irgendwie werden wir diese Krise überstehen.«

»Diejenigen, die sie überleben.« Emmie erkannte die dumpfe, niedergeschlagene Stimme kaum als ihre eigene.

»Was die meisten von ihnen tun werden – du wirst schon sehen«, erwiderte Remana energisch. »Die meisten von denen, die gestorben sind, waren alt, Schätzchen, und schon fast am Ende ihrer Tage angelangt. Und die Kleinen, nun, welche Chance hätten sie denn in Nexis gehabt, so wie die Dinge heutzutage liegen? Was zählt, ist nur, daß du ihnen diese Chance überhaupt gegeben hast, Emmie – du und Jarvas. Was die anderen betrifft – nun ja, es sieht so aus, als hätten sie dank deiner Pflege das Schlimmste hinter sich. Denk nicht zuviel über die wenigen nach, die du verloren hast. Denk statt dessen an die vielen, die du gerettet hast.«

»Vielen Dank, Remana.« Emmie drückte der älteren Frau dankbar die Hand. »Das hilft mir sehr – aber was können wir für die Überlebenden tun? Es ist unmöglich, sie alle mit Nahrung und Kleidern zu versorgen, und ich weiß, daß deine eigenen Leute dir wegen der zunehmenden Platzprobleme Schwierigkeiten machen …«

»Mit meinen eigenen Leuten habe ich schon ein Wörtchen geredet, vielen Dank!« erwiderte Remana düster, »und das ist das letzte, was wir zu diesem Thema zu hören bekommen, möchte ich meinen! Ich habe dafür gesorgt, daß zusätzliche Fischerboote rausfahren, um unsere knappen Vorräte ein wenig aufzubessern …« Einen Augenblick lang hellte sich ihr Gesicht auf. »Was für ein Segen doch dieser plötzliche Wetterumschwung ist! Bei den Göttern, es hat mich wirklich ermutigt, endlich wieder einmal die Sonne zu sehen!«