»Wetter?« Emmie runzelte überrascht die Stirn.
»Was? Du meinst, du hast während der vergangenen zwei Tage nicht ein einziges Mal deine Nase nach draußen gesteckt? Du hast es nicht einmal gesehen?« rief Remana aus. »Aber es ist doch ein Wunder geschehen, Mädchen. Es ist wieder Frühling!«
Emmie schüttelte ungläubig den Kopf. Es schien so lange her zu sein … Nach so vielen Monaten Schnee und Kälte und schrecklicher Dunkelheit konnte sie sich kaum daran erinnern, was Frühling eigentlich war.
»Warte nur bis morgen früh«, sagte Remana zu ihr. »Warte, bis du es mit eigenen Augen siehst. Ich nehme dich zu einer Segelpartie mit hinaus – das wird dir gut tun.«
»Aber ich kann nicht!« rief Emmie. »Ich muß …«
»Du mußt überhaupt nichts!« schnauzte Remana. »Morgen wirst du dich ausruhen, mein Mädchen! Wir haben hier alles unter Kontrolle«, fuhr sie ein wenig leiser fort, » … oder werden es zumindest bald haben. Überlaß das ruhig mir. Morgen schicke ich einen Boten zu meiner Schwester Dulsina, die bei den Rebellen im Tal der Lady Eilin ist. Sie haben viel größere Vorräte als wir und können uns sicher mit zusätzlichen Nahrungsmitteln aushelfen. Ich habe mir überlegt, daß wir deine noch gesunden Nexianer – diejenigen, die noch immer in der Lage sind, eine Waffe zu führen, und alle, die mit ihnen gehen wollen – zu ihnen schicken. Das sollte uns hier genug Platz verschaffen, um mit den übrigen fertig zu werden. Was hältst du davon?«
»O Remana – ich danke dir!« rief Emmie. Das Gewicht der Sorgen, das sich mit einem Mal von ihren Schultern gehoben hatte, schenkte ihr das Gefühl, wie auf Wolken zu schweben. »Was würden wir ohne dich nur tun?«
»Ich weiß nicht, was du ohne mich getan hättest, aber ich weiß, was du für mich tun wirst«, erwiderte die Nachtfahrerfrau energisch. »Als allererstes wirst du jetzt etwas Kräftigeres als Suppe zu essen bekommen, dann wirst du ein Bad nehmen – und dann gehst du in mein Zimmer, wo du dich ins Bett legen und in aller Ruhe ausschlafen wirst. Ist das klar?«
Emmie nickte dankbar. »Ja – ich glaube, ich könnte jetzt schlafen«, sagte sie. Aber trotz ihrer Beteuerungen mußte sie, als sie erst einmal unter der dicken Decke in Remanas warmem Bett lag, die weiße Hündin an ihrer Seite zusammengerollt, feststellen, daß es mit dem Schlafen nicht so einfach werden würde. Jetzt, da ihre Gedanken nicht länger um die praktischen Probleme der Unterbringung ihrer Leute kreisten, konnte sie nicht umhin, an jene zu denken, die den Angriff nicht überlebt hatten. So viele waren gestorben – Menschen, die sie gekannt und gemocht hatte. Der arme Benziorn, ihr Mentor und Lehrer in den heilenden Künsten, war verschwunden und wahrscheinlich nicht mehr am Leben … Und die arme Tilda … Mit einem Schaudern erinnerte sich Emmie an das Schwert, das den Bauch der Straßendirne durchbohrt hatte, so daß sich ihre Gedärme über dem blutbefleckten Boden ergossen hatten. Und was war aus Tildas kleinem Sohn Grince geworden? Er war in das brennende Lagerhaus zurückgelaufen, um Sturms Welpen zu retten, ohne zu ahnen, daß die kleinen Hündchen bereits tot waren … Emmie unterdrückte ein Schluchzen. Sie hatte den Jungen binnen kurzer Zeit so lieb gewonnen, aber es schien kaum Hoffnung zu geben, daß er noch lebte. Und selbst wenn er das Inferno im Lagerhaus überlebt hatte, war es wohl unwahrscheinlich, daß ein zehnjähriges Kind dem Gemetzel auf dem Vorhof unversehrt entkommen sein konnte.
Emmie hatte schon so viele Menschen verloren, die sie geliebt hatte – ihr Mann und ihre beiden eigenen Kinder waren vor einigen Monaten während der Raubzüge des Erzmagusch ermordet worden, mittlerweile hätte sie eigentlich keine Tränen mehr übrig haben dürfen. Aber während sie nun allein in der Dunkelheit lag, klammerte sich Emmie zum Trost an die weiße Hündin und weinte um den zerlumpten kleinen Jungen, der nie im Leben eine Chance gehabt hatte. Keinen Augenblick glaubte sie daran, daß sie ihn jemals lebendig wiedersehen würde.
Nach Einbruch der Dunkelheit war die Große Arkade in Nexis ein unheimlicher Ort. Die riesigen Säulenhallen, einst das pulsierende Herz des nexianischen Handels, waren jetzt nur noch ein Schatten ihrer früheren Pracht. Viele der ungezählten Geschäfte und Läden waren in den schwarzen Tagen von Miathans Herrschaft verlassen worden, und die endlosen Reihen kristallener Globen, die einst ein goldenes Licht erfüllte, waren dem Erlöschen nahe oder hatten sich bereits vollends verdüstert. Die Gänge und Gäßchen, durch die in glücklicheren Tagen Heerscharen von Füßen getappt waren, lagen jetzt still und in tiefe Schatten getaucht. Spinnen woben ihre seidenen Fallen, ohne dabei gestört zu werden, und die Stille wurde nur von dem huschenden Schritten der Küchenschaben und Ratten durchbrochen, die ihre nächtlichen Runden ungehindert fortsetzten – bis jetzt jedenfalls. Ein neuer Lumpensammler hatte sich in der Großen Arkade breitgemacht. Eine neue Gestalt, schweigsam wie die Schatten, schob sich durch die verlassenen Gänge, rasselte hier an einem Fensterladen, versuchte dort, ein Schloß zu öffnen, und verängstigte das Ungeziefer mit seinem menschlichen Geruch und seiner menschlichen Stimme. Sobald der Neuankömmling auftauchte, huschten Ratten und Insekten davon, um sich zu verstecken, unfähig zu begreifen, daß diese Störung ihrer friedlichen Existenz eine viel geringere Bedrohung war, als es den Anschein hatte – denn ihr Rivale war nur ein Kind.
Er mußte das Hündchen retten – das war der einzige Gedanke, der Grince während der letzten zwei oder drei oder vier Tage aufrechterhalten hatte – er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange er nun schon davonlief und sich versteckte, voller Angst um sein Leben, den kleinen Hund in den versengten Fetzen seines Hemdes verborgen. Voller Entsetzen war er geflohen, nachdem die Soldaten die Herberge gestürmt hatten, die dem schroffen, häßlichen Jarvas gehörte – und er hatte nach Emmie gesucht, seiner besten Freundin auf der Welt, die ihm alle fünf Hündchen geschenkt hatte, die ihre große weiße Hündin geworfen hatte. Vier dieser kleinen Lebensfünkchen lagen jetzt tot in der ausgebrannten Ruine des Lagerhauses, das für so viele arme Familien zu einem Heim geworden war. Grince hatte jetzt nur noch den einen verzweifelten Wunsch, diesen letzten seiner Hunde zu retten – denn soweit er das beurteilen konnte, war der kleine Welpe das einzige lebende Geschöpf, das zu ihm gehörte. Emmie, wenn sie überhaupt noch lebte, war nirgends zu finden.
Die erste klare Erinnerung, die der Junge nach den Schwertern und dem Blut und den Flammen hatte, war Tageslicht, eine offene Küchentür, ein kleiner Brotlaib, der zum Abkühlen auf einem Tisch lag – und Hunger, schrecklicher, quälender Hunger und Durst. Er war in das Haus hinein- und wieder herausgeflitzt, bevor die Hausfrau Zeit hatte, sich von dem Feuer abzuwenden, das sie gerade schürte, während Grince seine Beute fest mit seiner schmutzigen Faust umklammerte. Die Frau war zu dick und unbeholfen gewesen, um ihn einzuholen, obwohl er sich gut an den Klang ihrer Verwünschungen und Flüche erinnerte, die ihn den ganzen Weg die Straße hinunter verfolgten, bis er um eine Ecke bog und eine Öffnung in einem Kellergitter fand, durch die er seine magere Gestalt mühelos hindurchzwängen konnte.
Grince würde nie vergessen, wie schwer es ihm jenes erste Mal gefallen war, sein Hündchen zu füttern. Das kleine Geschöpf war in seinen Fortschritten kaum so weit gediehen, etwas anderes als Muttermilch zu sich zu nehmen, und es war schon völlig entkräftet und matt vor Hunger. Trotzdem zeigte es nicht das geringste Interesse an den Brotkrumen, die er ihm vors Maul hielt. Der kleine Junge schauderte, wenn er sich daran erinnerte, wie nah er daran gewesen war, seinen kostbaren kleinen Freund zu verlieren. Wenn ihm nicht wieder eingefallen wäre, was Emmie ihm erzählt hatte, daß nämlich die Muttertiere das Essen für ihre Jungen vorkauten … Sobald er einen oder zwei durchgeweichte Brotklümpchen zwischen die winzigen Kiefer des Hündchens geklemmt hatte, schien es zu begreifen, um was es ging. Wie das Kind war es zum Überleben geboren.