Dieser Abend im Keller war der Wendepunkt für sie beide. Grince, der zwar noch immer unter Schock stand, nachdem er den verwüsteten Leichnam seiner Mutter in den Ruinen von Jarvas’ Herberge gesehen hatte, fand in der Fürsorge für den winzigen Hund einen neuen Lebenssinn. Hundewelpen brauchten eigentlich Milch, das wußte er, aber Milch war ausgesprochen rar in Nexis, und obwohl er lange und verzweifelt danach suchte, konnte er keine finden. Dann dachte er an Käse – würde das vielleicht auch gehen? Mittlerweile führte ihn seine Suche zu den weniger von Armut geprägten Haushalten im Norden der Stadt. In einer unbewachten Speisekammer fand er schließlich ein Stück Käse, nachdem er sich wie ein Schatten durch ein offenes Küchenfenster hatte gleiten lassen. Außerdem stand da ein Topf Haferbrei, der am Rande des Feuers bis zum Frühstück warm gehalten werden sollte. Auch den Brei stahl Grince, wobei er den heißen Griff des Topfes in einen Lumpen hüllte, bevor er ihn hochhob. Er hatte gestaunt, wie leicht es ging.
Auf der Suche nach einem Versteck, in dem er seine Beute genießen konnte, hatte der Junge ein hohes Fenster auf der Rückseite der Arkade entdeckt, dessen hölzerne Läden einen kleinen Spalt weit offenstanden. Es war schwierig gewesen, mit dem Hündchen, das er noch immer in den versengten Lumpen seines Hemdes versteckt hielt, dort hinaufzuklettern, und als noch schwieriger hatte es sich schließlich erwiesen, den Topf mit dem Haferbrei hinaufzubekommen, ohne den Inhalt zu verschütten. Aber Grince, durch Not erfinderisch geworden, hatte schließlich alles geschafft und sich zu guter Letzt stöhnend und fluchend über das Fenstersims geschwungen. Vor der Fensteröffnung befand sich eine Reihe von Metallstangen, aber die Zwischenräume waren gerade breit genug für einen kleinen mageren Jungen, der sich hindurchquetschen wollte.
Grince war auf der anderen Seite der Mauer schwer zu Boden gefallen; sein Sturz war deshalb so unbeholfen gewesen, weil er versuchte, sowohl seinen kostbaren kleinen Hund als auch den Inhalt des Haferbreitopfes zu schützen. Glücklicherweise waren die Steinfliesen auf dem Fußboden mit einer dicken Schicht staubigen Strohs bedeckt gewesen, das den Fall ein wenig milderte. Trotz seiner Sorgfalt machte ihn seine harte Landung jedoch für einen Augenblick atemlos, und ein Teil des erstarrten Breis schwappte über den Rand des Topfes. Grince fluchte und löffelte mit einem schmutzigen Finger einen Breiklumpen, der immer noch am Rand klebte, zurück in den Topf. Dann steckte er seine Finger in den Mund, und plötzlich wurde ihm klar, wie hungrig er war. Er hätte den ganzen Topf leer essen können, hielt sich aber mit Mühe zurück. Der Brei war für das Hündchen bestimmt.
Das Hündchen! Hatte es den Sturz gut überstanden? Mit zitternden Händen öffnete Grince sein Hemd und untersuchte das kleine Geschöpf, wobei er es in das schwache Licht hielt, das durch das Fenster über ihm fiel. Als der kleine Hund die kalte Luft auf seinem Körper spürte, stieß er ein klagendes Wimmern aus, aber davon abgesehen schien es ihm gut zu gehen. Grince war sicher, daß das kleine Tier ebenfalls hungrig war. Er mußte einen sicheren Ort für sie beide finden, an dem sie sich verstecken konnten …
Die leisen, raschelnden und scharrenden Laute im Stroh, die die Anwesenheit von Ratten verrieten, hatte der Junge bereits vernommen. Grince konnte ihre leuchtenden kleinen Augen in der Dunkelheit vor sich sehen, konnte sehen, wie sie ihn beobachteten. Er hatte keine Angst vor ihnen, sagte er sich mutig. Immerhin hatte es zu Hause auch immer Ratten gegeben. Aber das Hündchen war in tödlicher Gefahr, und die Ratten würden mit dem ohnehin geringen Essensvorrat des Jungen kurzen Prozeß machen. Grince ließ seinen Plan fallen, den Breitopf in einer Ecke stehen zu lassen, während er das Haus erkundete. So sperrig er auch sein mochte, er würde den Topf mitnehmen müssen. Was er für den Anfang wirklich brauchte, war ein Kerzenstummel – und ein guter, kräftiger Stock würde auch nichts schaden! »Komm mit, Hündchen«, sagte der Junge zu seinem kleinen Kameraden. Dann umklammerte er mit festem Griff den Henkel des Breitopfes und machte sich in der Finsternis auf den Weg.
Das Innere des Hauses war zu dunkel, um es auszukundschaften. Grince hatte noch keine drei Schritte getan, als er schon gegen eine hölzerne Wand lief. Er trat einen kleinen Schritt nach links und wäre um ein Haar über einen Haufen von Kisten und Kästen gestolpert, die sich dort türmten. Der Junge unterdrückte einen Fluch und strahlte plötzlich übers ganze Gesicht, als ihm eine Idee kam. Er bückte sich und begann, sich durch den unordentlichen Stapel hindurchzugraben. Und da, direkt in der Mitte, fand er endlich sein Versteck in einem alten Mehlfaß, das die Ratten nur aus einer Richtung erreichen konnten – und mit einem Holzbrett, das er von einer kaputten Lattenkiste herunterzog, würde er sie leicht fernhalten können. Zum ersten Mal seit einer ganzen Ewigkeit hatte Grince einen Zufluchtsort, an dem er sich beinahe sicher und geborgen fühlte – einen Platz, an dem er darangehen konnte, Pläne für sein Überleben zu schmieden.
»Hab keine Angst, Kleiner – ich passe schon auf dich auf.« Obwohl Grinces Worte an das kleine Hündchen gerichtet waren, das noch immer unter den Lumpen seines Hemdes kauerte, waren sie doch auch ein verzweifelter Versuch, sich selbst zu trösten. Der kleine Junge war erschöpft und hungrig, er war ganz allein in der Kälte und Dunkelheit dieses fremden, riesigen, unheimlichen Hauses, und es gab niemanden mehr in seiner ganzen kleinen Welt, an den er sich um Hilfe wenden konnte.
Sie waren alle tot. Grince schloß die Augen und erschauerte. Sein Geist versuchte noch immer verzweifelt, sich vor der brutalen Wahrheit zu schützen. Wieder einmal überfiel ihn der Impuls zu laufen – zu laufen, wie er gelaufen war seit dem Tag, an dem sein junges Leben in Blut und Flammen aufgegangen war. Aber Grince war nun schon zu lange vor der Wahrheit davongelaufen. Er hatte jetzt ein gutes Versteck gefunden, und er hatte genug Verstand, um zu wissen, daß er hierbleiben sollte. Die Arkade bot Schutz vor den Gefahren und der Gewalttätigkeit des dreckigen Hafenviertels. Sie würde ihn vor Wind und Wetter beschützen und vor den brutalen Wachen, deren Schwerter das Blut seiner einzigen Beschützer getrunken hatten. Hier würde er auch mit einigem Glück ab und zu etwas zu essen stehlen können und eine Art Frieden finden, der es ihm ermöglichte, sich um seinen kleinen Kameraden zu kümmern.
Grince befand, die beste Möglichkeit gegen den drohenden Tränenstrom zu kämpfen, bestünde darin, sich um sein Hündchen zu kümmern, das unter seinem Hemd zitterte und vor Hunger wimmerte. Es war eine schreckliche Angelegenheit, in der Dunkelheit den Brei in den winzig kleinen Mund hineinzustopfen, und als der Junge fertig war, hatte er das Gefühl, das klebrige Zeug am ganzen Körper zu haben – zumindest den Teil, der nicht in dem weißen Pelz des kleinen Hundes steckte. Immerhin schien das Hündchen jetzt zufrieden zu sein. Grince konnte das leise, gleichmäßige Seufzen seines Atems hören, als es einschlief. Schließlich verbarg der Junge es wieder unter seinem Hemd, wo das Tier es warm haben würde. Dann schob er den Breitopf an die Rückseite des Fasses, damit die Ratten nicht an den kleinen Rest, der noch übrig war, heran konnten, ohne es vorher mit ihm aufnehmen zu müssen.
Als ihm jetzt sein eigener Hunger wieder einfiel, angelte er ein zerquetschtes, schäbig aussehendes Käsebröckchen aus seiner Tasche und biß hinein. Dann wand und krümmte er sich unbeholfen in dem engen, gewölbten Faß, um eine bequeme Lage zu finden, nahm seinen Stock in die Hand, schmiegte sich beschützend um den pelzigen kleinen Leib seines Hündchens und befahl sich, einzuschlafen. Dieser Ort war so sicher wie jeder andere auch, und am Morgen, sobald es heller Tag war, würde er das Haus ein wenig auskundschaften …