Grince erwachte schreiend aus einem Alptraum. Das Tor der Herberge war niedergerissen, und das Lagerhaus wurde von einer tosenden Feuersbrunst verzehrt. Menschen rannten durcheinander, schrien … Überall waren Soldaten, ihre langen, scharfen Klingen glitzerten blutrot in dem Licht der Flammen und sogen durstig immer mehr Blut in sich auf. Überall waren Leichen, lagen im Schmutz wie zerbrochenes Spielzeug. Und da war auch Grinces Mutter, flach ausgestreckt, wo sie gefallen war, aufgeschlitzt wie ein geschlachtetes Tier, während die Soldaten mit ihren grimmigen Gesichtern und ihren Schwertern immer weiter und weiter mordeten … Grince wimmerte, und Tränen strömten ihm übers Gesicht, während sich vor seinem inneren Auge Schwerter, Feuer und Tod die Hand reichten … Er hockte sich in seinem Faß hin, als wolle er die Wachposten mit ihren scharfen Klingen abwehren – bis er plötzlich ein scharfes, gequältes Bellen aus seinem Hemd hörte.
Dieser Laut riß Grince schlagartig aus allen Alpträumen heraus. Das Hündchen – um ein Haar hätte er ihm weh getan! Während er noch mit sich ob seiner Dummheit haderte, ließ der Junge eine zitternde Hand in sein Hemd gleiten. Eine weiche, pelzige Gestalt schmiegte sich mit freudigem Winseln an seine Finger, und eine winzige Zunge leckte ihm die Hand. Tief in seinem Innern spürte Grince einen warmen Schauder der Freude, der auch noch die letzten Fetzen seines Alptraums zu vertreiben half. Ja wirklich, das Tier kannte ihn! Und eigentlich, dachte er, sollte es auch einen Namen haben … Wie er da in der Dunkelheit hockte und seine Hand immer noch das warme, trostspendende Fell des kleinen Hundes liebkoste, dachte Grince über die verschiedenen Möglichkeiten nach. Es mußte irgendwie ein besonderer Name sein. Das war immerhin sein Hund, und er verdiente etwas Besonderes. Zusammengekauert in der Dunkelheit, zermarterte sich der Junge das Gehirn nach einem passenden Namen – einem perfekten Namen –, aber ohne jeden Erfolg. Eine Möglichkeit nach der anderen wurde verworfen, weil sie eben doch nicht ganz richtig war. Doch immerhin lenkte diese Beschäftigung von Kälte und Hunger ab, von Einsamkeit und mitternächtlichem Grauen …
Tief in Gedanken versunken, streichelte Grince den drahtigen Körper des kleinen Welpen. Eigentlich war er gar nicht so klein, überlegte er. Er war ihm nur so klein erschienen, weil er ihn früher mit der ungeheuren Größe seiner Mutter verglichen hatte. Außerdem war er der größte der Welpen gewesen und hatte riesige Ohren und Füße, dachte er stolz. Emmie hatte ihm erzählt, die Füße seien deshalb so groß, damit das Hündchen in sie hineinwachsen konnte. Und eines Tages, hatte sie gesagt, würde es genauso groß werden wie ihr eigener weißer Hund. Wo mochte Emmie jetzt sein? Ohne zu begreifen, was mit ihm geschah, versank der Junge von neuem in den Schauervisionen der Herberge. Wieder waren die Soldaten mit ihren brutalen Schwertern da – nur daß Grince diesmal nicht allein war. An seiner Seite stand ein riesiger weißer Hund – sein weißer Hund, der jetzt ganz erwachsen war. Mit einem wütenden Fauchen sprang er die Soldaten an, zerrte mit seinen großen weißen Zähnen an den Männern, die mit ihren Schwertern nichts gegen ihn auszurichten vermochten. Schreiend vor Entsetzen liefen die Soldaten davon …
Da kam Grince wieder zu sich: unbequem in das staubige Faß geschmiegt und der große weiße Hund ein hilfloses Baby, das sich in das zerlumpte Hemd des Jungen kuschelte. Aber er wird nicht immer so klein bleiben, dachte Grince glücklich. Wenn ich jetzt gut auf ihn achtgebe, wird er so groß und stark wie seine Mutter, und dann wird er auf mich achtgeben! Und er wird ein besserer Kämpfer sein als all diese gemeinen Soldaten zusammen …
Plötzlich setzte sich Grince aufrecht und schlug mit dem Kopf an den gewölbten Deckel des Fasses. Der Schmerz des Stoßes konnte sein begeistertes Grinsen jedoch nicht beeinträchtigen. Natürlich. Das war’s! Das war der perfekte Name! Der kleine Junge zog sein Hündchen glücklich an sich. »Weißt du was?« fragte er es. »Ich werde dich Krieger nennen.« Dann schlief Grince endlich mit einem Lächeln auf den Lippen ein, eingehüllt in das sichere Wissen, daß ihn sein weißer Hund vor seinen Träumen beschützen würde.
Hoch über dem schlafenden Nexis, auf dem Felsen, von dem aus man einen Blick auf die Überreste der einstmals so stolzen Stadt hatte, fingen die weißen Mauern der Akademie das Mondlicht ein und verwandelten es in ein unheimliches Glitzern. Ein Betrachter, der die Akademie von den niedereren Unterkünften der Stadt aus beobachtete, hätte aus der Ferne meinen können, das Heim der Magusch sei immer noch unverdorben und vollkommen – bis auf die Stelle, an der der gewaltige Wetterdom eingestürzt war. Wenn man die Dinge jedoch von einem Standort innerhalb der Mauern betrachtete, sahen sie ganz anders aus.
Ist das immer so? überlegte Miathan, während er vorsichtig über die schmutzigen, rissigen Pflastersteine des Hofes schlurfte. Ist stets alles anders, wenn man es von der anderen Seite betrachtet? Der Erzmagusch ermüdete immer noch leicht, denn die lange Zeit, die er in einem anderen Körper zugebracht hatte, hatte ihn ungeheure Kräfte gekostet – ganz zu schweigen von den übermenschlichen Anstrengungen, die nötig waren, um sich wieder in seinen eigenen Körper zurückzukatapultieren, nachdem seine Schachfigur Harihn, deren Gestalt er sich geborgt hatte, niedergemetzelt worden war.
Als er den vom Mondlicht versilberten Hof halb überquert hatte, machte Miathan eine kurze Pause, um sich auszuruhen, und setzte sich auf den alten Steinrand des Springbrunnens, dessen sprudelnde Wasser mit ihrem fröhlichen, plätschernden Lied schon lange verstummt waren. Ein bitteres Lachen verzerrte Miathans Lippen. Dies war wahrlich ein passender Thron! Endlich hatte er sein ehrgeiziges Ziel erreicht – seine Herrschaft über die Sterblichen in der Stadt war absolut, so wie er es sich immer gewünscht hatte – und sein Sieg war so hohl und leer und schal wie die geborstene Ruine des einst so gewaltigen Wetterdoms.
Wie schön es früher hier doch war, dachte der Erzmagusch. Es hatte eine Zeit gegeben, da war die Akademie voller Leben und Bewegung, während die Magusch hin und her huschten, ganz auf die Frage konzentriert, wie sie ihre Zauberkräfte vervollkommnen konnten. Überall hatten sich Diener zu schaffen gemacht, die unter Elewins strengem Blick schrubbten und kehrten und das Gebäude in all seiner Pracht am Leben hielten … In jenen Tagen hatten hier Stolz und zielgerichtetes Streben geherrscht, überlegte Miathan. Nicht nur das Streben und der Stolz eines einzigen ehrgeizigen Magusch, sondern das Streben und der Stolz vieler Leute, die ihren jeweiligen Geschäften nachgingen … All die Arbeit, die Persönlichkeiten, die Hoffnungen und Träume dieser Magusch hatten sich vereint, um der Akademie ein Leben und einen Geist einzuhauchen, die einzigartig waren – und er, der Erzmagusch, hatte, getrieben von seiner Gier, die größere Welt in seinen Besitz zu bringen, den Ort der Zerstörung preisgegeben, über den er rechtmäßig herrschte. Es war, als hätte er nach einem Regenbogen gegriffen – und nur eine Handvoll Regen erwischt, der ihm jetzt auch noch durch die Finger rann und im Nichts verschwand.
Der Erzmagusch ließ seinen vielfachen prismatischen Blick, den ihm die Juwelen verliehen, die seine Augen ersetzten, über den Hof der Akademie gleiten. Die perlweißen Gebäude, die einst so makellos und sauber gewesen waren, wurden nun von dunklen Moosflecken und schleimigem Moder überwuchert. Das aus Glas und Eisen errichtete Gebäude, das den Pflanzenraum beherbergte, war geschmolzen und hatte sich in der Hitze der Explosion des Wetterdoms völlig verzogen. In seinen Rissen breitete sich zählebiges Unkraut aus. Die Fenster der Großen Halle und des Maguschturms waren gesprungen und von einer Schmutzschicht überzogen, und von dem Dach der Bibliothek lösten sich die Deckenfliesen und hinterließen klaffende Löcher, die die unbezahlbaren Werke den Zerstörungskräften von Schmutz und Feuchtigkeit preisgaben.