Miathan erschauderte. »Ich habe nicht gewollt, daß so etwas passiert«, flüsterte er. Dann verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. Um der Macht willen hatte er so viel geopfert, daß er diese jetzt behalten mußte, koste es, was es wolle. Dennoch war er unfähig, den Anblick des verlassenen, von Erinnerungen heimgesuchten Hofs auch nur noch einen Augenblick länger zu ertragen. Also zog er sich die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht, als könne er das Bild, das sich ihm bot, auf diese Weise auslöschen. Dann stand er hastig auf und begab sich auf den Weg in die tröstlicheren Gefilde seines Gartens.
Von ihrem Fenster im Maguschturm konnte Eliseth die gebeugte Gestalt über den Hof humpeln sehen. Miathan wirkte ganz wie der alte Mann, der er in Wirklichkeit war. Sie lächelte. Die Hände, mit denen der Erzmagusch die Zügel der Macht festhielt, wurden also endlich schwächer. Bald – schon sehr bald – würde die Reihe an ihr sein, und es war Zeit, einen Teil ihrer Pläne in die Tat umzusetzen. Sobald Miathan in seinem Garten verschwunden war, ging sie wieder in ihr Gemach und holte ihre Kristallkugel hervor. Mit diesem neuen, irgendwie kleiner gewordenen Miathan würde die Wettermagusch leicht fertig werden. Den größten Teil der Arbeit hatte Aurian für sie erledigt. Als erstes mußte Eliseth jedoch herausfinden, was diese, ihre eigentliche Feindin im Schilde führte.
Mitten im Zimmer blieb Eliseth, die noch immer die glitzernde Kristallkugel auf ihrer Handfläche balancierte, stehen und legte nachdenklich die Stirn in Falten. Das Hellsehen gehörte nicht zu ihren natürlichen Fähigkeiten und würde deshalb ungeheure Konzentration und Anstrengung erfordern, wollte sie Aurian – ganz zu schweigen von diesem unverschämten Anvar – nicht auf sich aufmerksam machen. Es war eine Frage ihrer eigenen Sicherheit. Miathan hatte seine Augen verloren, als Aurian – auf dem Weg durch eine Hellseherkugel – seinen Schlag parierte. Diese Lektion hatte sich die Wettermagusch zu Herzen genommen. »Ich brauche mehr Macht«, murmelte Eliseth bei sich. »Genug Macht, um Aurian zunächst einmal zu finden und zu erreichen – und genug Macht, um mich dann vor ihr zu schützen.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. »Wie überaus günstig, daß sich gerade jetzt eine solche Quelle magischer Energie hier im Maguschturm befindet.« Mit energischen Schritten verließ sie ihre Gemächer und stieg nach oben, zu Vannors Gefängnis.
4
Eine ausgebrannte Ruine
»Es ist hoffnungslos«, murmelte Yanis. »Wenn das so weitergeht, werden wir Vannor nie mehr finden.« Er trank ein wenig von seinem Bier und verschluckte sich fast. »Bei den Göttern – dieses Zeug schmeckt, als käme es aus einem Abort!«
»Das tut es wahrscheinlich auch. In der Stadt sind jetzt so viele Dinge knapp geworden, daß mich nichts mehr überraschen würde«, erwiderte Tarnal unglücklich und hoffte, den Anführer der Nachtfahrer auf diese Weise mit Hilfe der geringeren Sorge von der größeren abzulenken. Obwohl er sich an die Übellaunigkeit seines Freundes gewöhnt hatte, bereiteten ihm in letzter Zeit Yanis’ dauernde Anspielungen auf die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage große Sorgen. Er zweifelte daran, daß sich der Anführer der Nachtfahrer über das Ausmaß seiner Gefühle für Zanna bewußt war, aber was Tarnal anging – für ihn kam es überhaupt nicht in Frage, nach Hause zurückzukehren, bevor er sie gefunden hatte.
Der blonde junge Schmuggler seufzte und sah sich angewidert im Schankraum des Unsichtbaren Einhorns um. Es war kein Lokal, das besonderen Optimismus weckte, das mußte er sich eingestehen, während er naserümpfend den Gestank des schmutzigen, von Ungeziefer verseuchten Strohs auf dem Fußboden wahrnahm. Angeekelt betrachtete er die einstmals weißen Wände, die jetzt übersät waren mit Ruß und Fettflecken und Rostspritzern, die verdächtig nach getrocknetem Blut aussahen. »Als Parric bei uns in Wyvernesse war, sagte er, dies sei seine Lieblingstaverne«, bemerkte er. »Nur gut, daß er sie jetzt nicht sehen kann.«
»Psst, du Narr!« Yanis sah sich mißtrauisch um, aber nur wenige von den anderen Gästen schienen sich in Hörweite aufzuhalten. »Um Himmels willen, posaun doch hier keine Namen aus! Hier wimmelt es nur so von den verfluchten Söldnern, die im Lohn von du weißt schon wem stehen, und du schreist dir die Kehle aus dem Leib …«
Tarnal spürte, wie sein Gesicht vor Verlegenheit blutrot wurde. »Aber du warst doch derjenige, der überhaupt hierherkommen wollte. Ich habe dir gleich gesagt, daß ich es für eine idiotische Idee halte. Und du hast außerdem damit angefangen, als du Va …«
»Wirst du wohl still sein!«
»Aber du hast doch …«
»Ja, na schön. Ich war unvorsichtig, tut mir leid«, sagte Yanis hastig. Tarnal bemerkte, daß sich mehrere Köpfe in ihre Richtung wandten, und schauderte. »Na komm, laß uns hier verschwinden. Was du auch denken magst, Yanis, es war eine dumme Idee, ausgerechnet in diese Taverne zu gehen.«
Die beiden Nachtfahrer stahlen sich hinaus auf die dunkle Straße und nahmen den Weg in den Norden der Stadt. Sie folgten einer Route, die durch die Hintergassen führte, hievten sich mühsam über Hofmauern und Zäune und kürzten ihren Weg durch leerstehende Gebäude ab, bis sie ganz sicher waren, daß ihnen niemand folgte. Endlich wechselte das Labyrinth zerfallender, rußverschmutzter Häuser über zu ordentlich in Reih und Glied stehenden neueren Häusern, deren Backsteinwände nach wie vor leuchtend weiß getüncht waren.
»Diese Straßen sehen für mich alle so verdammt gleich aus«, stöhnte Yanis, aber der jüngere Mann hatte sich die wenigen bemerkenswerten Unterschiede genau eingeprägt und war sich seines Weges völlig sicher.
»Hier entlang.« Tarnal bog scharf nach rechts ein, ging auf die Nordtore der Stadt zu und wählte dann einen Weg durch eine kleinere Gasse zu seiner Linken. Dann noch einmal scharf rechts, und sie standen vor der frisch geschrubbten Türschwelle von Hebbas Haus.
»Ich weiß nicht, wie du das hinkriegst«, staunte Yanis kopfschüttelnd. Tarnal drückte die Holztür auf und versagte sich eine schroffe Antwort. Er konnte nur den Göttern dafür danken, daß der junge Schmugglerführer auf See besser zu Hause war als in der Stadt – ansonsten säßen die Nachtfahrer jetzt unangenehm in der Klemme. Immerhin war Yanis wenigstens auf die Idee verfallen, bei Hebba Zuflucht zu suchen, rief Tarnal sich ins Gedächtnis, denn er war immer darauf bedacht, jedem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wäre Hebba nicht gewesen, wer weiß, was dann aus uns geworden wäre!
Als die beiden jungen Männer nach Nexis gekommen waren, hatten sie mehrere, mit diskreten Nachforschungen angefüllte Tage damit zugebracht, Vannors alte Köchin zu finden. Begonnen hatten sie mit einem heimlichen mitternächtlichen Besuch im Dienerquartier des ehemaligen Wohnhauses des Kaufmanns und waren entsetzt gewesen, als sie herausfanden, daß es nun von dem korrupten, geldgierigen Gildeherrn Pendral bewohnt wurde, den der Erzmagusch, wie es hieß, vollends in der Tasche hatte und der sich schon auf seine Rolle als neues Oberhaupt der Händlergilde vorbereitete. Die meisten von Vannors ehemaligen Dienern waren bereits gegangen, aber der Bursche des Gärtners erinnerte sich noch an Hebba und glaubte, daß eine der jüngeren Küchenmägde – eine gute Freundin von ihm, wie er ihnen mit einem lüsternen Augenzwinkern versicherte – ihren jetzigen Aufenthaltsort kannte. Das Mädchen bediente jetzt in einer Taverne und würde morgen dort zu finden sein. Und für den Fall, daß sie selbst Hebbas Adresse nicht kannte, würde sie sicher jemanden wissen, der das tat … Von einem Ort zum anderen hatte die Spur geführt, bis die beiden Männer die frühere Köchin schließlich im nördlichen Teil der Stadt entdeckten, im Haus ihrer Schwester, die zusammen mit ihren Kindern und ihrem Ehemann in der Nacht der Todesgeister gestorben war.
Hebba wußte noch, daß Yanis der Neffe von Vannors Haushälterin Dulsina war, aber zum Glück für ihr Nervenkostüm hatte sie keine Ahnung von der Verbindung der beiden Männer mit den legendären Schmugglern. Als sie ihr erzählten, daß sie auf der Suche nach ihrer geliebten Zanna seien, war sie mehr als bereit gewesen, ihnen Zuflucht zu gewähren, und außerdem hatte sie Angst davor, in diesen gewalttätigen Zeiten allein zu leben, und sehnte sich verzweifelt nach jemandem, den sie wieder bemuttern konnte. Sie hatte die beiden jungen Männer mit offenen Armen willkommen geheißen, und wenn sie auch nur wenig besaß, gab sie doch großzügig davon ab.