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»Das Schlimme ist nur, daß meine Mutter mir die Haut abziehen wird, wenn ich ohne Zanna zurückkomme«, stöhnte Yanis. Allerdings gab es nichts mehr, was er in dieser Angelegenheit hätte unternehmen können, versuchte er sich einzureden. Hatte er nicht in der ganzen Stadt nach ihr gesucht? Was erwartete man denn noch alles von ihm? »Nein – ich gehe nach Hause, und damit hat sich’s.« Die Tatsache, daß er laut sprach, half ihm, seine schwindende Entschlossenheit zu stärken. Jetzt mußte er nur noch die Orientierung wiederfinden.

Zum ersten Mal, seit er Hebbas Haus den Rücken gekehrt hatte, begann Yanis, auf seine Umgebung zu achten. Die Gebäude in der schmalen Straße waren immer noch dieselben verfluchten Dinger aus Backstein und Gips, obwohl ihm plötzlich aufging, daß er sich eigentlich bereits in dem älteren Teil der Stadt hätte befinden müssen. »Diese verdammten Häuser«, murmelte er angewidert. »Ich muß im Kreis gegangen sein.« Er blieb einen Augenblick stehen, sah sich um und versuchte ohne Erfolg, einen Orientierungspunkt zu finden. Verzagt mußte er sich eingestehen, daß im Augenblick die lange Heimreise das geringste seiner Probleme darstellte. In seinem Wutanfall hatte er nichts aus dem Haus mitgenommen als den Umhang, den er am Leibe trug, und schon jetzt war er so durchgefroren, daß ihm die Zähne klapperten. Verzweifelt sehnte er sich nach Wärme und einem Dach über dem Kopf – aber da er sich so gründlich verirrt hatte, hätte er jetzt nicht mehr zu Hebba zurückkehren können, selbst wenn er es gewollt hätte. Die verriegelten Türen und die fest geschlossenen Fensterläden der Häuser um ihn herum starrten ihn mit leeren, ausdruckslosen Gesichtern an. Bei der ungeheuren Gewalttätigkeit, die im Augenblick in Nexis herrschte, würden die Leute einem Fremden nach Einbruch der Dunkelheit kaum die Türen öffnen. Yanis stieß einen leisen Fluch aus. Es hatte keinen Sinn, einfach hier herumzustehen und immer nasser zu werden – nicht, daß er jetzt überhaupt noch nasser werden konnte, dachte er säuerlich. Schulterzuckend marschierte er also wieder weiter. Eine andere Wahl blieb ihm nicht.

Nach einer Weile faßte der Nachtfahrer jedoch neue Hoffnung, als er ans Ende einer Straße stieß, die von einer zweiten gekreuzt wurde: einer Straße, die zu seiner Linken steil hügelabwärts führte. Den Göttern sei gedankt! Yanis atmete erleichtert auf. Jetzt mußte er nur noch immer bergab laufen, dann würde er gewiß in den älteren Teil der Stadt gelangen. Vielleicht würde er dann auch seine Orientierung wiederfinden, unten, zwischen den verlassenen Lagerhäusern und den verfallenen Gebäuden in der Nähe des Hafens, die ihm außerdem auch ein Dach über dem Kopf bieten würden.

Yanis lief durch die einsamen Straßen, hielt den Kopf gesenkt und die Augen auf die trügerisch schlammigen Pflastersteine gerichtet und war immer sorgsam darauf bedacht, nicht auszurutschen, da sich seine Schritte auf dem steil nach unten führenden Weg bedenklich beschleunigt hatten. Das einzige Licht sickerte durch die Ritzen in den Fensterläden; hier und da hing eine Laterne über einem Hauseingang, und über manchen Gebäuden baumelten vom Regen verdüsterte Lampen, die Straßenkreuzungen anzeigten. Die Nässe, die ihm bis auf die Knochen ging, setzte dem jungen Schmuggler schwer zu, aber noch schlimmer war der Schaden, den Tarnals Fäuste bei ihrer abendlichen Keilerei angerichtet hatten. Da er von Kälte, Müdigkeit und unerfreulichen Erwägungen abgelenkt war, waren seine Selbsterhaltungsinstinkte nicht so wachsam wie sonst.

Yanis versuchte, den Anschein eines normalen Bürgers zu erwecken, der bei der Ausübung seiner gewohnten Pflichten in einen Regenguß geraten war und jetzt so schnell wie möglich nach Hause wollte. Er hatte vergessen, daß er nicht der einzige Gesetzlose war, der sich nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen von Nexis herumtrieb.

Im einen Augenblick lief Yanis noch mit langen Schritten seinem Ziel entgegen, im nächsten traf ihn etwas Hartes und Schweres von hinten, und er stolperte. Er prallte heftig gegen eine Wand und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den durchweichten Boden, sein Schädel brummte, und sein Mund war voller Schlamm. Jetzt jedoch handelte er instinktiv und rollte sich keuchend zur Seite – aber ein Strahl kalten Feuers in seinem rechten Arm machte ihm klar, daß er zu spät reagiert hatte. Das Messer hatte sich direkt durch den Muskel seines Unterarms gebohrt, bevor seine Spitze die Pflastersteine darunter traf. Yanis schrie auf und riß seinen Arm so ruckartig weg, daß die Klinge der Hand seines Angreifers entrissen wurde und in seinem Fleisch steckenblieb. Noch atemlos vor Schmerz, erhaschte der Schmuggler einen Blick auf den Schatten, der sich über ihn beugte, eine dunkle Silhouette vor dem Flimmern einer Laterne in einem der nahen Hauseingänge. Dahinter waren zwei weitere Gestaltern zu sehen, die sich ihm näherten wie ein paar Wölfe.

Mit seiner linken Hand griff Yanis eine Faust voll Schlamm und schleuderte diesen seinem Angreifer ins Gesicht. Der Mann schrie ihm ein unflätiges Wort entgegen und prallte, die Hände an die Augen gepreßt, zurück. Yanis mühte sich auf die Knie und griff nach dem Messer, aber seine schlammigen Finger fanden auf dem vom Blut klebrigen Griff kaum Halt. Als sein Angreifer sich von neuem auf ihn stürzte, gelang es ihm endlich, die Klinge in einer Fontäne aus Blut aus seinem Arm zu ziehen und dem Räuber in den Bauch zu rammen. Schreiend stürzte der Mann zu Boden und riß im Fallen einen seiner Kameraden mit sich. Yanis, der die Mauer benutzt hatte, um sich mühsam hochzuziehen, trat dem vor ihm liegenden Burschen kräftig ins Gesicht.

Der dritte Wegelagerer, ein drahtiger kleiner Mann, der bisher wenig Neigung zum Kämpfen gezeigt hatte, rückte ihm jetzt bedrohlich näher. In der Hand hielt er einen langen, massiven Knüppel. Yanis sah, wie der Mann einen Blick auf seine am Boden liegenden Kameraden warf und zögerte – und stufte die kleine Ratte sofort als Feigling ein. Er ließ das blutbefleckte Messer kurz durch die Luft schnellen und warf es unbeholfen mit der linken Hand auf den Mann zu. Die Klinge war für solche Kunststückchen nicht geschaffen. Dieser Nachteil wurde durch die Nähe des Ziels jedoch wieder ausgeglichen. Der kleine Mann kreischte und ließ seine Waffe fallen, als das Messer ihn in die Brust traf, obwohl Yanis wußte, daß seinem Wurf die notwendige Kraft gefehlt hatte, um mehr als nur einen Kratzer zu verursachen. Mit ungeschickten Bewegungen tastete der Nachtfahrer nach seinem Schwert, und der Anblick von funkelndem Stahl tat ein übriges. Der knochige kleine Mann drehte sich auf dem Absatz um und gab Fersengeld. Yanis, von dessen Arm noch immer das Blut tropfte, taumelte in die entgegengesetzte Richtung davon, denn sein einziger Wunsch war jetzt, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und seine Angreifer zu legen.

Glücklicherweise war er bereits nahe genug am Fluß, um die hohen Dächer der Lagerhäuser sehen zu können, die die niedrigeren Gebäude um Längen überragten. Obwohl er mit seiner linken Hand den Schwertgriff noch immer fest umklammert hielt, benutzte Yanis seinen Unterarm, um sich den Regen und seine schlammigen, zerzausten Haare aus den Augen zu wischen. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, den weißglühenden Schmerz in seinem nutzlosen rechten Arm zu ignorieren. Gleichzeitig versuchte er, nicht darüber nachzudenken, daß er – selbst wenn er den Zufluchtsort, den er so dringend brauchte, finden sollte – kaum eine Chance hatte, seine Verletzung mit der linken Hand so zu verbinden, wie es notwendig war. Aber es hatte keinen Sinn, sich jetzt über dieses Problem Gedanken zu machen. Er verlor zuviel Blut, und Kälte und Nässe taten ein übriges. Hinzu kam, daß das Risiko einer weiteren Begegnung mit Wegelagerern immer größer wurde, je länger er durch die Straßen lief. Wenn er nicht schnellstens eine sichere Zuflucht vor dem Regen fand, einen Ort, an dem er ein Feuer entzünden konnte, würde sich das Problem, seine Wunde zu versorgen, überhaupt nicht mehr stellen. Yanis blickte sich um, und als niemand zu sehen war, legte er einen Augenblick lang und mit größtem Widerwillen sein Schwert zur Seite. Mit schmerzverzerrtem Gesicht riß er einen Lumpenstreifen aus dem zerfetzten Ärmel seines Hemdes und band ihn, so fest er konnte, über seiner tropfenden Wunde fest, wobei er mit den Zähnen und den von der Kälte taub gewordenen Fingern seiner linken Hand einen unbeholfenen Knoten zustande brachte. Dann griff er wieder nach seinem Schwert und taumelte weiter.