Benziorn zog die zusammengekrümmte Gestalt ein Stück von den drohenden Flammen weg und ging neben seinem mysteriösen Besucher in die Hocke. Als er den Körper herumdrehte, stieß er einen überraschten Fluch aus. Also wirklich, war das nicht dieser Schmugglerjunge? Und in ernsten Schwierigkeiten, wie es schien. Irgend jemand hatte sein Gesicht ganz schön zugerichtet, aber größere Sorgen bereitete ihm im Augenblick der verwundete Arm, wo eine Klinge Fleisch und Muskeln durchtrennt und sich auf der anderen Seite ihren Weg ins Freie gebahnt hatte. Stirnrunzelnd und mit unsicheren Fingern beschäftigte sich der Arzt mit der provisorischen Aderpresse, die oberhalb der Wunde angelegt worden war. Dieses Ding mußte als erstes weg. Es war schon viel zu lange angelegt – der Arm darunter war bereits weiß und zeigte eine ungesunde bläuliche Färbung, während das Fleisch um den Lumpenstreifen herum angeschwollen war, so daß dieser nun um so fester saß und Benziorn alle Mühe hatte, ihn mit zitternden, trunkenen Fingern zu lösen.
»Emmie!« rief Benziorn instinktiv, während er sich weiter an dem verdammten Knoten abmühte. »Komm her und hilf mir – und bring meine …« Seine Stimme erstarb, während die Erinnerung, die er im Wein ertränkt hatte, sich wie eine Messerklinge von neuem in sein Herz bohrte. Emmie war fort. Jarvas war fort und all die alten Leute und die kleinen Kinder … Einen Augenblick trübte das Bild verkohlter und unkenntlich gewordener Leichen seinen Blick.
»Verdammter Mistkerl«, zischte Benziorn dem bewußtlosen Mann wütend zu. »Warum mußtest du hierher zurückkommen und mich an all das erinnern? Ich bin kein Arzt mehr – wo läge da auch der Sinn? Ich habe das Heilen aufgegeben, sag’ ich dir …«
»Nun, dann solltest du jetzt besser wieder damit anfangen – und zwar schnell.«
Benziorn fuhr herum und sah sich plötzlich Auge in Auge mit einer Speerspitze. Sein Blick verfolgte die lange funkelnde Klinge, immer weiter, hinauf und hinauf, bis er in die kalten Augen des anderen jungen Schmugglers sah – des kleinen Blonden, der ihm ebenfalls noch aus der schrecklichen Nacht von Pendrals Angriff in Erinnerung war.
Tarnal sah mit wachsendem Ärger hinunter auf die taumelnde Gestalt des Arztes mit dem verschleierten Blick. Was, zum Teufel, war nur los mit dem Mann? Dann roch er den Alkohol in Benziorns Atem, und sein Ärger verwandelte sich in Furcht. »Sitz da doch nicht gaffend rum, du betrunkener Narr. Tu was! Hilf ihm!« Die Schärfe in seiner Stimme, das wußte er, entsprang unter anderem seinem eigenen schlechten Gewissen.
Der junge Schmuggler war die ganze Nacht wach gewesen, hatte seinen Kampf mit Yanis zutiefst bedauert und sich um den Anführer der Nachtfahrer gesorgt, der in Sturm und Dunkelheit allein durch die Stadt irrte. Außerdem hätte er seinen Freund vielleicht überreden können zu bleiben, wenn der nicht so aus der Haut gefahren wäre … Und auch die Erinnerung an Yanis’ letzte zornige Worte war Tarnal unerträglich gewesen. Jetzt, da Yanis’ Wut Zeit gehabt hatte, sich ein wenig abzukühlen, würde er die Dinge doch gewiß anders sehen? Sobald es hell genug war, um sich draußen zurechtzufinden, war Tarnal zur Suche nach ihm aufgebrochen, wobei er ganz zu Recht vermutet hatte, daß sein früherer Freund seine Schritte zu den Lagerhäusern am Hafen lenken würde, um dort Zuflucht zu suchen. Im Hafenviertel schließlich hatte er schon bald die unverkennbaren Abdrücke der weichbesohlten Stiefel gefunden, die die Schmuggler benutzten, um auf den schlüpfrigen Decks ihrer Schiffe nicht den Halt zu verlieren. Und daneben hatte er eine Spur dunklen Bluts im trocknenden Schlamm bemerkt, die ihm das Herz bis in die Kehle schlagen ließ und ihn schließlich zu diesem Ort führte.
»Na schön, na schön.« Benziorns Stimme riß Tarnal mit einem Ruck zurück in die Gegenwart. »Du kannst diesen verwünschten Stahlklumpen jetzt wegstecken, junger Mann, und mir hier unten helfen.«
Tarnal schob sein Schwert hastig in die Scheide und ließ sich neben dem Arzt auf die Knie fallen. »Was soll ich tun?«
»Siehst du das?« Benziorn zeigte auf den blutdurchtränkten Lumpenfetzen. Der Schmuggler spürte, wie angesichts der klaffenden Messerwunde Übelkeit in ihm aufstieg. Er schluckte schwer und riß seinen Blick schließlich von dem schauderhaften Bild los. Bei solchen Dingen war er noch nie besonders gut gewesen. »Ja«, sagte er schwach.
»Also, hol dein Messer raus und schneid ihn auf.«
»Was – den Arm?«
»Nein, du verdammter Torfkopf! Den Verband!« brüllte der Arzt.
»Oh! Na ja, woher sollte ich das auch wissen?« murmelte Tarnal ein wenig töricht. Mit hochroten Wangen tastete er nach seinem Messer.
»Hast du wirklich geglaubt, du könntest dem unglücklichen Kerl hier den Arm mit einem Gürtelmesser absägen? Melisanda, steh uns bei!« Benziorn blickte gottergeben gen Himmel. »So – jetzt laß die Klinge ganz vorsichtig unter den Verband gleiten – und paß ja auf, daß du deinen Freund dabei nicht verletzt! Ich würde es ja selber tun, wenn meine Hände ruhiger wären. Ein Anflug von Schüttelfrost, glaube ich …«
Schüttelfrost, wahrhaftig, dachte Tarnal mürrisch. Die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt, manövrierte er sein Messer unter den blutdurchtränkten Lumpen und versuchte, seinen Blick möglichst von dem zerfetzten Fleisch darunter abzuwenden. Mit angehaltenem Atem drehte er die Klinge leicht, um die scharfe Kante nach oben zu richten – und seufzte vor Erleichterung, als der Stoff riß und die Aderpresse zu Boden fiel.
»Ich bin dir ja so dankbar«, sagte Benziorn sarkastisch. Tarnal mußte sich in Erinnerung rufen, daß dieser unverschämte, vom Alkohol benebelte Kerl der einzige war, der Yanis helfen konnte, und widerwillig entspannte er seine geballten Fäuste.
»Leg noch mehr Holz aufs Feuer – ich kann ja nicht mal sehen, was ich tue.« Der Arzt beugte sich tief über die gekrümmte Gestalt des Nachtfahrers und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Verletzung, aus der jetzt ein neues Blutrinnsal sickerte. »Nun, es sieht so aus, als wäre der Arm noch durchblutet«, murmelte er. »In dieser Hinsicht hat dein Freund Glück gehabt – obwohl er schon extremes Glück braucht, um einer Entzündung zu entgehen. In dieser Wunde stecken alle möglichen Sorten von Schlamm und Unrat. Da drüben, bei meiner Decke, findest du einen Topf Wasser, Junge. Würdest du ihn bitte aufs Feuer stellen, ja? Und gib mir auch den Lederranzen, den du dort siehst. Ich muß versuchen, den Arm so gut ich kann zu säubern, aber …«
Während Tarnal sich beeilte, Benziorns Wünsche zu erfüllen, machte dieser sich weiter an Yanis’ Wunde zu schaffen, wobei er weiterhin laut seine Gedanken äußerte: »Würde nicht viel nutzen, wenn ich jetzt nähe – das Fleisch ist im Moment zu sehr angeschwollen. Und außerdem vermute ich, daß die Wunde noch ziemlich lange Luft brauchen wird.« Er blickte mit so ernstem Gesichtsausdruck zu dem jungen Schmuggler auf, daß Tarnal spürte, wie ihm das Herz im Leib zu Blei wurde.
»Ich werde natürlich mein Bestes tun, Junge, aber du mußt auf alles gefaßt sein.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Dein Freund wird für eine ganze Weile ein sehr kranker Mann sein. Wenn wir die Entzündung nicht unter Kontrolle kriegen, müssen wir ihm möglicherweise den Arm abnehmen, um sein Leben zu retten.«
5
Warnende Worte
»Majestät, glaubt Ihr nicht, Ihr hättet jetzt genug Zeit auf diese erdgebundenen Zauberer verschwendet?« Elster zuckte zusammen und verfluchte sich innerlich für ihre eigene Furchtsamkeit, als in den dunklen Augen der Königin plötzlicher Zorn aufblitzte. Ich mußte natürlich wieder mal den Mund zu weit aufreißen, dachte sie.
»Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur anzudeuten, nach allem, was Aurian und Anvar für uns getan haben.« Rabe sprang von ihrem Platz auf und begann mit einer Miene, die von einem wütenden Stirnrunzeln verfinstert wurde, in ihrem reich ausgestatteten Gemach auf und ab zu laufen. »Du magst ja alt genug sein, um meine Großmutter zu sein, Elster, und du magst mir das Leben gerettet haben, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, mir zu sagen, wie ich mein Königreich zu regieren habe!«