Elster zögerte, aber dann faßte sie einen Entschluß. Sie war jetzt ohnehin schon zu weit gegangen. Also konnte sie sich nun auch noch alles andere von der Seele reden. »Wenn ich es nicht tue, wer wird es dann machen?« konterte sie. »Ihr habt recht, Majestät, ich weiß wenig vom Regieren, aber ich habe viele Jahre auf dieser Welt zugebracht. Weil ich Ärztin bin, schenken mir die Leute ihr Vertrauen, und außerdem verstehe ich mich darauf, Augen und Ohren offen zu halten. Ihr seid jung, und trotz allem, was Eure Mutter Euch beizubringen versucht hat, habt Ihr kaum mehr Erfahrung im Regieren als ich. Da man Euch als königliches Kind isoliert großgezogen hat, habt ihr wenig oder gar keine Freunde im Palast. Königin Flammenschwinges Ratgeber sind alle unter Schwarzkralles Herrschaft umgekommen, und Ihr habt noch keine eigenen Ratgeber ernannt. Das ist nur eine der vielen wichtigen Verpflichtungen, die Ihr aufgeschoben habt, solange die Erdenkriecher all Eure Aufmerksamkeit und Zeit verschlungen haben. Nun, Ihr seid bisher noch nicht mal offiziell gekrönt worden, und das wird auch nicht passieren, bevor kein neuer Hohepriester ernannt ist: Noch eine Aufgabe, der Ihr Euch bisher entzogen habt. Aber seid gewarnt; wenn Ihr keine Wahl trefft, dann werden die Priester das für Euch tun – und ihre Wahl würde vielleicht eine andere sein als Eure und nicht notwendigerweise zu Eurem Besten ausfallen.«
»Verflucht – gib mir wenigstens eine Chance!« brauste die Königin auf.
»Ich tue das – aber Ihr habt Feinde in Aerillia, die das nicht tun werden.« Als die Ärztin sah, wie sich Sturmwolken auf Rabes Gesicht zusammenballten, milderte sie ihren Tadel mit einem Lächeln. »Wollt Ihr nicht wenigstens jemandem zuhören, der gerne Eure Freundin wäre? Ich biete Euch nur Informationen und Rat. Die Informationen könntet Ihr benutzen, selbst wenn Ihr beschließen solltet, den Rat in den Wind zu schlagen.«
»Was für Informationen? Und was meinst du mit Feinden? Wer wagt es, sich mir entgegenzustellen?« wollte die Königin wissen.
Völler Erleichterung darüber, daß das Mädchen endlich zu Verstand gekommen zu sein schien, setzte die Heilerin sich mit einem Rascheln ihrer schwarzweißen Schwingen bequemer auf dem spindeldürren Stuhl zurecht. Sie sah sich in Rabes behaglichem, von Lampenlicht erleuchteten Raum mit den goldbestickten Wandbehängen um und sehnte sich nach dem Frieden und der Vertrautheit ihres eigenen überfüllten, zugigen Quartiers. Doch dieses hatte sich bei dem Sturz von Schwarzkralles Turm zusammen mit dem ganzen Bezirk, in dem er gestanden hatte, zu Schutt und Asche verwandelt. Die Königin hatte Elster zum Dank dafür, daß sie ihr das Leben gerettet hatte – und sehr zum Unwillen der Heilerin selbst –, den Titel ›Königliche Leibärztin‹ verliehen. Ihr neues Quartier war viel luxuriöser und bequemer als das alte, aber es paßte Elster überhaupt nicht, daß Rabe nun ihr Kommen und Gehen kontrollieren konnte und das alleinige Anrecht auf ihre Fähigkeiten besaß; und aus langer Erfahrung wußte sie, daß es niemals bequem, friedlich oder auch nur sicher sein konnte, einem herrschenden Monarchen so nahe zu sein.
»Nun?« Rabes scharfe Stimme durchschnitt Elsters Gedanken. »Du scheinst ziemlich langsam mit deinen Antworten zu sein, denn noch vor ein paar Sekunden warst du so voller guter Ratschläge. Oder wolltest du mich nur einschüchtern?«
Elster seufzte. »Ich wünschte, ich wüßte die Namen Eurer Feinde«, gab sie zu. »Aber ich würde Euch zu größter Vorsicht raten, Majestät. Schwarzkralle hat viele heimliche Anhänger in dieser Stadt zurückgelassen. Seid wachsam gegenüber allen, in die Ihr Euer Vertrauen setzt.«
»Du hast mir nichts Neues erzählt, du nutzloses altes Weib! Wenn die Identität von Schwarzkralles Anhängern ein solches Geheimnis ist, wem kann ich dann, in Yinzes Namen, überhaupt noch trauen?« erwiderte Rabe schmollend.
Elster holte tief Luft und rief sich ins Gedächtnis, daß die Königin – trotz all ihrer Macht – immer noch kaum mehr als ein Kind war. »Für gewöhnlich«, antwortete sie ruhig, »könnt Ihr jenen trauen, die bereit sind, sich Euren Zorn zuzuziehen, indem sie Euch unangenehme Wahrheiten sagen.«
»Wie überaus passend! In diesem Falle, nehme ich an, sollte ich dich wohl zu meinem obersten Ratgeber ernennen«, höhnte das geflügelte Mädchen.
»Ihr könntet es schlimmer treffen. Zumindest behaupte ich nicht, daß es Schwarzkralle war, der dem Winter ein Ende bereitet hat, und nicht die Magusch. Und ich streue auch keine Gerüchte aus, daß Ihr aus einer Vielzahl von Gründen nicht in der Lage seid zu regieren.«
Rabes Mund klappte auf. »Was für Gründe sollen das sein?« brachte sie mit leiser, erstickter Stimme hervor.
Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Unterhaltung hatte Elster das Gefühl, sich der vollen Aufmerksamkeit der Königin zu erfreuen. Also begann sie, die einzelnen Punkte an ihren Fingern abzuzählen: »Erstens heißt es, Aurians Zauberkünste seien nur ein Trick und Eure Flügel würden nicht mehr funktionieren, sobald die Magusch Aerillia verläßt und Euch als Krüppel zurückläßt …«
»Ungeheuerlich!« brauste Rabe auf. »Daß dies eine Lüge ist, wird sich in dem Augenblick zeigen, in dem die beiden Magusch abreisen.«
»Stimmt, aber um ihre Lügen zu verschleiern, behaupten die Leute auch, Ihr hättet Euch mit den natürlichen Feinden der Geflügelten verbündet: mit den Zauberern, den Xandim und den großen Katzen. Wegen der Vorfälle mit dem Xandim-Prinzen, der Schwarzkralles Verbündeter war …« Als Elster Rabes erschrockenes Gesicht sah, nickte sie wie zu einer stummen Entschuldigung. »Es tut mir leid, Euch Ungemach zu bereiten, Majestät, aber irgendwie hat sich diese bedauernswerte Angelegenheit herumgesprochen, und es ist besser, wenn Ihr es wißt. Es heißt, daß es wieder einmal Fremdländern gelungen sei, Euch zu übertölpeln, und daß Ihr uns an unsere Feinde verraten würdet. Die Königin, so sagen die Leute, ist zu jung und unerfahren, um das Himmelsvolk zu regieren.«
»Bei Yinze – wie können die Leute nur solche Lügen verbreiten!« Rabe schlug mit der Faust gegen die Wand, aber die Wucht ihres Schlages wurde von den schweren Wandbehängen gedämmt. »Das stimmt nicht – nichts von alledem stimmt!«
Die Heilerin verspürte den verzweifelten Wunsch, das unglückliche Mädchen zu trösten, aber die Königin zu verhätscheln würde keines ihrer Probleme lösen. Es war schwer, aber sie würde lernen müssen, mit solchen Krisen fertigzuwerden, und zwar schnell. »Also, was wollt Ihr jetzt unternehmen?« fragte Elster ruhig.
»Ich weiß es nicht«, jammerte Rabe. »Ich würde diese Leute als Verräter verhaften lassen, aber wir wissen ja nicht mal, wer sie sind … Und wie soll ich diesen gemeinen Verleumdungen begegnen? Wenn ich öffentlich dagegen protestiere, gibt das den Gerüchten nur neue Nahrung, und alles wird noch schlimmer.« Sie rang die Hände. »Ich hätte nie gedacht, daß es so schwierig ist, Königin zu sein …«
»Das muß es auch nicht«, erklärte ihr Elster gelassen. »Alles, was Ihr braucht, ist Rückhalt im Militär und bei der Priesterschaft – und erst in zweiter Linie beim Rest des Volkes.« Sie lächelte dem verzweifelten Mädchen zu und klopfte auf den Platz neben sich. »Komm her, Kind, setz dich und hör auf, dir solche Sorgen zu machen. Trink ein Glas Wein. So, und jetzt wollen wir zusammen nachdenken, ja?«
Gehorsam setzte sich Rabe hin und nahm den Kelch entgegen, den die andere Frau ihr darbot. Elster ließ ihr Zeit zu einem guten Schluck, bevor sie fortfuhr: »Als erstes schlage ich vor, stell dir einen Vorkoster ein. Als Ärztin habe ich umfangreiche Kenntnisse, was Gifte betrifft …«
Alle Farbe wich aus dem Gesicht der Königin. Sie begann zu husten.
»Es ist schon gut – ich habe nichts dergleichen getan«, übertönte Elster das Keuchen von Rabe und hoffte, daß diese ihre Lektion gelernt hatte. »Aber ich hätte es ohne weiteres tun können.«