Rabes Gesicht, das eben noch kalkweiß gewesen war, wurde schlagartig dunkelrot. »Hexe! Harpyie!« kreischte sie und stürzte sich mit ausgefahrenen Krallen auf die Ärztin. Elsters alte Knochen zeigten plötzlich eine Behendigkeit, die ihnen jahrelang gefehlt hatte, und sie umklammerte mit starken, knorrigen Händen Rabes Gelenke, die sie erst losließ, als diese wieder Ruhe gab.
»Genug!« keuchte die Ärztin und verfiel wieder in die ehrfurchtsvolle Anrede: »Verzeiht mir, Majestät, aber, das war eine Lektion, die Ihr lernen mußtet.«
Rabe funkelte sie sprachlos vor Zorn an – und dann, nach etlichen Sekunden, fand sie ihre Stimme wieder. »Wenn du mir so etwas noch einmal antust«, knurrte sie, »solltest du mich besser wirklich vergiftet haben, denn sonst lasse ich dir den Kopf abschlagen!«
»Wenn Ihr mir noch einmal Gelegenheit gebt, so etwas zu tun«, entgegnete Elster ungerührt, »möchte ich Euch vorschlagen, die Wachen mit Eurer eigenen Enthauptung zu beauftragen. Das würde nämlich Zeit sparen.«
Die Königin biß sich auf die Lippen, um eine wütende Erwiderung zu unterdrücken. Dann schüttelte sie den Kopf – und brach plötzlich in lautes Gelächter aus. »Weißt du, Elster, manchmal erinnerst du mich an Lady Aurian. Sie ist mit Dummköpfen genauso ungeduldig und geradeheraus wie du.« Ihr Gesicht wurde plötzlich nüchtern. »Und ich bin wirklich ein Dummkopf gewesen, nicht wahr? Da ich das Schicksal meiner Mutter kenne, hätte ich vorsichtiger sein müssen …« Sie runzelte die Stirn. »Aber sag mir eins: Wer würde den gefährlichen Posten eines Vorkosters der Königin annehmen wollen? Wie könnte ich einen Freund zu einem Leben in ständiger Gefahr verdammen? Und andererseits – wie könnte ich einem Feind vertrauen? Wem soll ich eine solche Aufgabe geben?«
»Cygnus.« Der Name war Elster über die Lippen gerutscht, noch bevor sie wußte, wie ihr geschah.
Rabes Augen weiteten sich vor Überraschung. »Aber warum? Du hast ihn selbst ausgebildet. Er hat dir geholfen, mir das Leben zu retten. Cygnus ist doch ein Freund – oder?«
Wie soll ich ihr das erklären? überlegte Elster. Die Königin hatte keine Ahnung, daß Cygnus für das Gift verantwortlich war, an dem ihre Mutter gestorben war. Und außerdem hatte er gebüßt und bereut – oder vielleicht nicht? Es hatte keinen Sinn. Die Ärztin mochte sich noch so sehr als törichte alte Frau beschimpfen und sich übermäßigen Argwohn vorwerfen, aber ein gewisses Gefühl des Mißtrauens gegenüber Cygnus ließ sich nicht abschütteln. Wer auch immer diese Gerüchte verbreitet hatte, wußte eindeutig zuviel – und wer wußte mehr als sie selbst und Cygnus? Andererseits konnte sie ihn ohne Beweise kaum anklagen. Nein, wahrscheinlich war der beste Platz, um den jungen Heiler von weiterem Unheilstiften abzuhalten, der Platz direkt an der Seite der Königin – wo ich ihn im Auge behalten kann, dachte Elster. Und ich werde ihn beobachten wie ein Habicht.
»Ihr müßt Geduld haben mit der Königin, meine Freunde, sie ist ja fast noch ein Kind.« Cygnus ließ seinen Blick von einer der drei Gestalten, die mit ihm am Tisch saßen, zur nächsten wandern. Aguila, der Hauptmann der Königlichen Wache, war mit Sicherheit der härteste Brocken. Der junge Arzt würde, was ihn betraf, sehr vorsichtig sein müssen, denn der Mann hatte geschworen, die Königin zu beschützen. Die beiden anderen stellten ein geringeres Problem dar: Skua, der nach Schwarzkralles Dahinscheiden zum stellvertretenden Hohepriester bestellt worden war, war überdies der Chef der Tempelwache und würde alles dafür tun, seine augenblickliche Position offiziell bestätigt zu sehen. Was den Anführer der Syntagma, Aerillias Kriegerelite betraf – nun ja, Sonnenfeder war Cygnus’ engster Freund gewesen, seit sie beide flügge geworden waren. Nach dem Unfall, der den hübschen jungen Krieger beinahe das Leben gekostet und Cygnus veranlaßt hatte, den Weg des Schwertes zugunsten des Weges der Heilung aufzugeben, war Sonnenfeders Aufstieg in den Reihen der Syntagma geradezu kometenhaft gewesen. Oft hatte der Heiler darüber nachgesonnen, daß wohl die Nähe zum Tod seinen Freund verändert hatte: nach dem Unfall stürzte er sich mit gierigen Händen auf alles, was das Leben ihm zu bieten hatte. Als der damalige Flügelmarschall, der es gewagt hatte, sich Schwarzkralle in den Weg zu stellen, durch einen mysteriösen Unfall ums Leben kam, war Sonnenfeder nur allzu bereitwillig in dessen Fußstapfen getreten.
Es war immer gut, überlegte Cygnus, Freunde in hohen Positionen zu haben. Nachdem sein erster Versuch, Aurian und Anvar loszuwerden und sich die Harfe der Winde aus dem eingestürzten Tunnel unter dem Tempel zu holen, gescheitert war, hatte er sich das Gehirn nach einer Alternative zermartert. Obwohl ihm bisher noch nichts Rechtes eingefallen war, hatte er beschlossen, daß der erste Schritt darin bestehen müsse, einen Keil zwischen Königin Rabe und die beiden Magusch zu treiben. Trennen und erobern, wie seine alten Lehrer beim Militär ihm immer vorgebetet hatten. Und heute würde er damit anfangen. Während er sich räusperte und das unangenehme Gefühl der Nervosität in seinem Magen niederkämpfte, richtete er das Wort an die anderen: »Ich habe diese Sitzung einberufen, damit wir vier darüber nachdenken können, was zum Besten unseres Volkes zu tun ist – und zum Besten der Königin natürlich«, fügte er hastig und mit einem Seitenblick auf Aguila hinzu.
Der hübsche Hauptmann mit dem lohfarbenen Haar sah ihn unbeeindruckt an. »Das will ich doch hoffen«, meinte er unverblümt. »Königin Flammenschwinges tragisches Schicksal ist eine Schande, von der sich die Königliche Wache sobald nicht erholen wird, und ich habe einen feierlichen Eid geschworen, daß ihrer Nachfolgerin so etwas nicht passieren wird. Deine heimliche Versammlung hier stinkt nach Verrat, Cygnus, und um deinetwillen solltest du mich jetzt besser schnell vom Gegenteil überzeugen.«
Cygnus fluchte innerlich. Nach Schwarzkralles Tod hatte sich für viele über Nacht das Blatt gewendet, und die Führung der Militärkräfte von ganz Aerillia hatte eine rasche Wandlung durchlaufen. Und ausgerechnet dieser loyale, gewissenhafte, niedrig geborene Holzkopf hatte die Kontrolle über die königliche Wache an sich gerissen! Jetzt mußte Cygnus schnellstens etwas einfallen, damit die Situation nicht außer Kontrolle geriet!
»Du tust mir Unrecht, Hauptmann«, sagte der Arzt mit verletzter Stimme. »Du solltest wissen, daß ich mehr als irgend jemand sonst der Königin treu ergeben bin. Also wirklich, habe ich nicht zusammen mit Elster alles daran gesetzt, ihr Leben nach dem schändlichen Angriff des Hohepriesters zu retten? Hatte Schwarzkralle nicht die Absicht, auch mich zu töten? Jeden Tag danke ich Yinze, daß Ihre Majestät jetzt in Sicherheit ist und endlich den Thron für sich beanspruchen kann, der ihr rechtmäßig gehört.« Er betrachtete die Gesichter seiner Kameraden, um die Wirkung seiner Worte abzuschätzen, und fuhr ermutigt fort:
»Was ich jetzt zu sagen habe, ist nur zum Besten der Königin und ihrer Untertanen. Kann es wirklich Gutes für Aerillia bedeuten, wenn sich seine Regentin mit fremdländischen, erdgebundenen Zauberern verbündet hat? Habt ihr denn alle die bitteren Lektionen der Verheerung vergessen?«
»Davon weiß ich nichts, aber mir scheint, daß du ein oder zwei unbequeme Tatsachen vergessen hast«, knurrte Aguila. »Zum einen haben wir den Fremden dafür zu danken, daß sie uns von Schwarzkralle befreit und Königin Rabe auf den Thron gesetzt haben. Sie haben lange und hart gearbeitet, seit sie hierherkamen, um unser Korn wieder wachsen zu lassen und ganz Aerillia vorm Hungertod zu bewahren.« Er beugte sich über den Tisch und fixierte den wutschnaubenden Cygnus mit einem brennenden Blick. »Und außerdem«, fuhr er fort, »wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, so war es Incondor, ein Geflügelter, der die Verheerung heraufbeschworen hat. Ihn trifft haargenau soviel Schuld wie den erdgebundenen Zauberer Chiannala.«
»Nun mal langsam, Freund Aguila«, warf Sonnenfeder glattzüngig ein. »Niemand würde deine Worte bestreiten, aber ich glaube, du hast unseren Freund mißverstanden. Ihm liegen nur die Interessen aller am Herzen. Die Erdenkriecher haben eine führende Rolle gespielt, das stimmt, aber was wird der Preis für ihre Hilfe sein? Im Augenblick sind sie der Grund dafür, daß Ihre Majestät ihre wichtigsten Pflichten vernachlässigt. Zu einer Zeit, da wir uns das am wenigsten leisten können, spricht sie davon, unsere Streitkräfte zu verringern und unsere Männer zum Kampf in einen fremden Krieg der Magie zu schicken.«