»Genau«, unterbrach ihn Skua. »Vergessen wir nicht, was uns in der Verheerung widerfahren ist? Nachdem wir unsere Magie verloren hatten, haben die Geflügelten geschworen, sich niemals mehr mit den Zauberern zu verbünden.« Er legte seine Hände flach auf den Tisch und blickte ernst von einem zum anderen. »Meine Freunde, ich glaube, Cygnus hat recht. Die Königin ist nur ein junges Mädchen, schutzbedürftig und außerdem dringend auf Rat und Leitung angewiesen. Es ist unsere Pflicht und Verantwortung, ihr zur Seite zu stehen – und anfangen müssen wir, indem wir sie von ihren erdgebundenen Freunden weglocken und unser Land von dieser fremdländischen Infektion befreien.«
»Das finde ich auch.« Sonnenfeder nickte. »Aguila, dein Argwohn ist völlig unangebracht. Schwarzkralle hat keine Macht mehr in Aerillia und …«
»Jawohl – aber es mag durchaus noch Leute geben, die ihn vermissen.«
Bei den Worten des Hauptmanns hob Sonnenfeder seine kupferroten Schwingen ein Stück in die Höhe und legte eine Hand auf sein Schwert. »Ich erwarte, du erklärst, wie du das gemeint hast, und entschuldigst dich«, zischte er. »Oder du machst dich bereit, deine bösartigen Verleumdungen in der Arena des Himmels zu verteidigen!«
Aguila sah ihn ungerührt an, aber auch er hatte eine Hand auf seine Waffe gelegt. »Es kommt mir so vor«, antwortete er mit trügerischer Sanftheit, »als sei der Hohepriester verantwortlich für deinen Aufstieg in deine augenblickliche Stellung. Ich möchte lediglich ein für allemal das Ausmaß deiner Loyalität der Königin gegenüber feststellen.«
Cygnus, der zu spät begriff, daß ihm die Kontrolle über diese Versammlung entglitten war, versuchte, die Spannung ein wenig zu lockern. »Bitte, meine Freunde, es besteht keinerlei Notwendigkeit für solchen Argwohn zwischen uns. Aguila, du hast den Flügelmarschall falsch eingeschätzt. Wie ihr alle wißt, war Sonnenfeder von Kindesbeinen an mein Gefährte, und wir haben uns auch im Laufe der Jahre nie aus den Augen verloren. Ich kenne die Gründe, warum er seine Stellung aus den Händen Schwarzkralles angenommen hat, denn er hat sich mir von Anfang an anvertraut. Ich war es, der ihm den Rat gab, die Beförderung anzunehmen – denn ich wußte, auf diese Weise würde seine Autorität groß genug sein, um unserem Volk im verborgenen zu helfen und die schlimmsten Pläne des Hohepriesters zu vereiteln. Was er tat, tat er aus den besten aller Gründe – so wie wir alle.«
»Ich verstehe. Nun, wenn das wirklich der Fall ist, bitte ich ihn um Verzeihung«, antwortete Aguila, obwohl Cygnus argwöhnte, daß seine Worte mehr der Vorsicht als wahrer Überzeugung entsprangen. »Ihr müßt verstehen, daß ich als Beschützer der Königin die Pflicht habe, diese Fragen zu stellen«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich gebe jedoch zu, daß es vernünftig klingt, was du sagst. Ich sehe auch keinen Sinn darin, unsere Krieger in einen fremden Krieg zu schicken, während wir unsere Position hier in Aerillia festigen sollten, und was das betrifft, werde ich mich bei Königin Rabe auf eure Seite stellen.«
Nur mit allergrößter Mühe gelang es Cygnus, einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken.
»Gut«, antwortete er. »Ich bin euch allen für eure Mithilfe dankbar, und ich schlage vor, daß wir morgen der Königin unseren Fall vortragen.«
Es konnte nur ein vorübergehendes Wunder sein, dachte Rabe – aber bei Yinze, solange es anhielt, war es einfach unglaublich! Das geflügelte Mädchen, jetzt Königin des Himmelsvolkes, ließ sich aus dem warmen Aufwind, in dem sie gekreist war, herausgleiten und flog auf die niedrigeren Hänge des Aerilliagipfels zu. Sollten die Leute doch sagen, was sie wollten, dachte sie, zumindest habe ich in meiner kurzen Regentschaft dieses eine Wunder zustande gebracht.
Dort, auf den von Hand aus den Steinen gehauenen Terrassen unterhalb der Zitadelle der Geflügelten, hatten sich die Leute an ein gewaltiges Projekt der Beackerung fruchtbaren Landes gemacht, und jeder, der einer solchen Arbeit gewachsen war, angefangen von den Ältesten mit ihrem zottigen Gefieder bis hin zu den kleinsten, gerade erst flügge gewordenen Kindern, beteiligte sich an der Arbeit. Rabe blickte voller Stolz auf ihre Untergebenen hinunter, die alle emsig damit beschäftigt waren, zu roden, zu pflanzen und zu säen, und plötzlich spürte sie, wie sich ihre Raubvogelaugen mit Tränen der Dankbarkeit und Erleichterung füllten. Das alles verdanke ich den Magusch, dachte sie. Aurian und Anvar. Obwohl ich sie verraten habe, sind sie mir so großherzig zu Hilfe gekommen.
Rabe krümmte sich innerlich bei dem Gedanken an ihre Dummheit. Um ein Haar hätte sie sie alle ins Verderben gestürzt! Wie konnte ich mich nur von Aurians Feinden übertölpeln lassen? Leuten, die auch meine Feinde sind. Wie einfältig ich doch war, überlegte sie. Aurian mochte ihr vielleicht verzeihen, aber die junge Königin des Himmelsvolkes fühlte sich nicht imstande, sich selbst zu verzeihen – und das verschlimmerte ihr Schuldbewußtsein bezüglich der Neuigkeiten, die sie den Magusch mitzuteilen hatte, nur noch mehr.
»He, Rabe!«
Das geflügelte Mädchen wandte sich mit einer scharfen Bewegung in die Richtung, aus der der Ruf erklang, und sah Aurian, die neben Anvar auf einem Erdwall am Ende einer Reihe von Reben stand und ihr zuwinkte. Rabe biß sich auf die Lippen, und ihr Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken an das, was ihr jetzt bevorstand. Die Magusch würden wahrhaftig nicht glücklich sein über die Nachricht, die sie ihnen übermitteln mußte – noch ein Grund mehr, die Sache schnell hinter sich zu bringen. Sie legte ihre Flügel an, landete neben den beiden auf dem Boden und mußte sich gleich darauf auch schon wieder bei ihnen entschuldigen, weil sie ihnen mit ihrem Manöver ganze Staubwolken ins Gesicht geblasen hatte.
Aurian hustete den Schmutz aus der Kehle und wischte sich mit dem Ärmel über die tränenden Augen. »Ich stelle fest, an deinen Wirbelwindlandungen hat sich nichts geändert«, meinte sie trocken.
»Du hast recht«, gestand Rabe ein. »Meine Mutter hat immer gesagt …« Ihre Züge verzogen sich zu einer gequälten Grimasse.
»Denk nicht daran.« Aurian legte dem geflügelten Mädchen die Hände auf die Schultern. »Rabe, du kannst die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Du hast gebüßt, und was wichtiger ist, du hast aus deinen Fehlern gelernt. Jetzt tust du dein Bestes, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Du hast versprochen, uns bei unserem Kampf zu helfen. Und mit deinen geflügelten Kriegern sind unsere Aussichten viel besser als zuvor, obwohl ich weiß, wie schwer es dir fällt, sie ausgerechnet jetzt ziehen zu lassen, da du doch hier, in deinem eigenen Königreich, alle Hände voll zu tun hast.«
Rabe wagte nicht, den beiden Magusch in die Augen zu sehen. »Genau darum geht es«, murmelte sie. »Ich …« Sie sah keine Möglichkeit, das, was sie zu sagen hatte, zu beschönigen. »Aurian, sie werden nicht mitkommen«, platzte sie heraus. »Ich habe den ganzen Morgen mit den noch verbliebenen Soldaten der Tempelwache, den Offizieren der Königlichen Wache und der Syntagma zugebracht. Sie sagen alle dasselbe: Daß es Wahnsinn wäre, unser Land zu einer Zeit, da wir am verletzlichsten sind, schutzlos zu lassen. Und daß seit den Zeiten der Verheerung die erdgebundenen Zauberer nichts anderes als unsere Feindschaft verdient hätten.«
»Sie sagen was?« rief Anvar mit eisigem Zorn in den blauen Augen. Mit einer ausladenden Geste wies er auf die grünenden Terrassen. »Das nennen sie nichts?« fuhr er auf. »All die Arbeit, die Aurian geleistet hat, um diese undankbaren Bastarde vor dem Hungertod zu bewahren? Und was ist mit Schwarzkralle? Wenn ich nicht gewesen wäre, gehörte dieses verdammte Königreich nicht einmal dir …«