»Ohne den Rückhalt der Krieger tut es das auch nicht!« rief Rabe. »Das haben sie mir bereits klargemacht«, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu, während die beiden Magusch entsetzt schwiegen. »Es war Elster, die mich gewarnt hat. Trotz seiner Grausamkeiten hatte Schwarzkralle viele Anhänger, vor allem bei den Militärs, denn sie glaubten ja, er versuche, die alte Selbstachtung und Vorherrschaft der Geflügelten wiederherzustellen. Wie sonst, glaubt ihr, hätte er solchen Erfolg haben können?« Eine bittere Schärfe schlich sich in ihre Stimme. »Sein einziger Fehler war der Mord an meiner Mutter. Selbst für jene, die ihm treu ergeben waren, ging das zu weit, aber auch heute noch gibt es Leute in Aerillia, die behaupten, der Einzug des Frühlings hätte nichts mit Anvar zu tun. Daß es Schwarzkralle gewesen sei, der dem Winter wie versprochen ein Ende bereitet habe – und das um den Preis seines eigenen Lebens.«
»Aber das ist eine verdammte Unverschämtheit!« Aurian runzelte die Stirn. »Weißt du, ich hatte schon das Gefühl, Feindseligkeit bei den Leuten zu spüren, während ich meine Arbeit hier getan habe. Aber dann habe ich mir gesagt, daß es sich lediglich um Mißtrauen gegenüber einem ausländischen Zauberer handelt. Wer hat denn diese lächerlichen Gerüchte überhaupt in die Welt gesetzt? Wie ist es möglich, daß die Leute so etwas glauben?«
»Ich wünschte, ich wüßte, wer dafür verantwortlich ist«, sagte Rabe. »Wegen der Sache mit Harihn ist meine Macht über das Himmelsvolk bestenfalls dürftig zu nennen, und die Tatsache, daß ich einen heimlichen Feind habe, der hinter meinem Rücken solches Gift verspritzt, macht mir angst. Eure selbstlose Arbeit für unsere nächste Ernte hat meine Position gestärkt – aber …«
»Aber das reicht nicht.« In Aurians Worten lag eine grimmige Endgültigkeit.
Rabe nickte. »Nicht nur das, sondern …« Sie schaute zu Anvar auf und bat ihn schweigend und mit flehenden Blicken um Verständnis. »Das Auftauchen der Harfe hat großen Widerwillen ausgelöst. Die Leute glauben, Anvar habe kein Recht, sie für sich zu beanspruchen. Erst heute noch meinte Sonnenfeder, der Flügelmarschall der Syntagma, die Harfe solle ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben werden: den Geflügelten. Die Hoffnung, unsere so lange verlorenen magischen Kräfte wiederzuerlangen, ist eine mächtige und gefährliche Verlockung. Bei all dem Groll, der sich gegen euch aufbaut, ist es hier nicht mehr sicher für euch …«
»Verdammt noch mal, Rabe, der einzige Grund, warum wir überhaupt geblieben sind, war der, daß wir deinem Volk helfen wollten«, begann Anvar erhitzt.
Aurian brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. »Es wird ohnehin Zeit, daß wir aufbrechen«, sagte sie gelassen. Nur das kalte graue Funkeln in ihren Augen verriet ihre wahren Gefühle. »Statt deine Autorität zu stärken, Rabe, macht unsere Anwesenheit die Dinge wahrscheinlich nur noch schlimmer – und außerdem müssen wir wirklich schleunigst zurück nach Norden. Kannst du immer noch veranlassen, daß uns jemand zur Xandim-Festung bringt?«
»Das bin ich euch schuldig. Das und so vieles mehr.« Tränen traten in Rabes Augen. »Du hast mir das Geschenk des Fluges zurückgegeben …« Sie holte tief Luft und bemühte sich, ihre Gefühle im Zaum zu halten. »Meine Leute haben mich beschämt, Aurian, aber ich werde meinen Verrat an euch wiedergutmachen, das verspreche ich. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Einige meiner Untertanen sind mir immer noch treu ergeben und werden euch als Träger und Kuriere dienen, bis ihr den Ozean überquert habt und in den Norden zurückgekehrt seid. Ich werde sofort alles Notwendige veranlassen.« Zu beschämt, um noch mehr zu sagen, erhob sie sich wieder in die Luft und flog zurück zu den im Sonnenlicht funkelnden Zinnen der Zitadelle.
Mit düsteren, kalten Augen sah Anvar zu, wie Rabe davonflog. Der Zorn, der sich seiner bemächtigt hatte, ließ sich nicht länger zurückhalten. Aurian, die seinen Blick auffing, hob fragend eine Augenbraue. »Stimmt sie dich immer noch so böse? Für diese Situation kannst du sie jedenfalls kaum verantwortlich machen.«
Anvar holte tief Luft. »Ich habe nie begriffen, wie du ihr verzeihen konntest.« Seine Stimme war tonlos und unbarmherzig. »Nach allem, was sie uns angetan hat – nach dem, was aus Wolf geworden ist –, wie konntest du da einfach so tun, als sei nichts geschehen? Wie konntest du nur so ruhig bleiben?« Die Windharfe, die er sich wie immer auf den Rücken geschnallt hatte, stimmte, angestachelt von seinem Zorn, eine mißtönende Melodie an, und Anvar brachte sie hastig zum Schweigen, auch wenn es ihn beträchtliche Anstrengung kostete. Wie Aurian in den frühen Tagen ihrer Verwalterschaft des Erdenstabes, hatte auch er noch immer gewisse Probleme bei der Beherrschung des mächtigen Artefakts.
Aurian, die sich mit den Ellbogen auf die zerfallende Trockensteinmauer der Terrasse gestützt hatte, drehte sich um und sah ihn an. »Anvar, brich nicht allzuschnell den Stab über sie. Zumindest hat Rabe niemanden getötet. O ja, sie hat Situationen heraufbeschworen, die einigen Menschen den Tod hätten bringen können, aber vergiß nicht, daß sie manipuliert wurde. Ihr größtes Verbrechen bestand darin, zu jung und unerfahren zu sein und den falschen Leuten zu vertrauen.«
Anvar schüttelte abwehrend den Kopf. »Na schön, jemand hat sie getäuscht. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie uns verraten hat!«
»Stimmt.« Aurian wandte ihren Blick ab. »Aber ich erinnere mich da an ein junges Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit dem Erzmagusch vertraut hat, und …«
»Aber das ist doch nicht dasselbe, Aurian!«
»Ach nein?« Aurians Lippen hatten sich zu einer schmalen Linie verzogen. »Ich habe doch gesehen, wie er die Sterblichen in Nexis verachtet hat. Hätte ich da nicht begreifen müssen, was für ein Mensch er war? Nach der Art, wie er dich behandelt hat, hätte ich da nicht wissen müssen, daß er von Grund auf böse ist? Als er versuchte, mir seinen Willen aufzuzwingen, hätte ich nicht spätestens da der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen?«
Anvar fügte in Gedanken jene Worte hinzu, die sie ungesagt ließ: »Und wenn ich das getan hätte, dann hätte Forral nicht zu sterben brauchen …«
»Das war nicht deine Schuld«, wiederholte er hartnäckig.
»Genau!« erwiderte Aurian triumphierend. »Ich habe dich gebraucht, um das zu begreifen – und es besteht kaum ein Unterschied zwischen Rabes Situation und meiner – ganz zu schweigen von deiner eigenen.«
»Was?« fragte Anvar fassungslos.
Aurian ergriff seine Hand. »Denk doch mal nach, mein Liebster. Denk an den jungen Mann, der früher einmal ein Mädchen so sehr geliebt hat, daß er ihm alles andere geopfert hätte, obwohl sie versucht hat, seinen Tod herbeizuführen, und ihn im Stich gelassen hat, um zuerst einen reichen Kaufmann und dann einen mächtigen König zu heiraten.«
Anvar prallte zurück, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Der blinde Wahn seiner Liebe zu Sara war kein Thema, das er gerne erörterte. »Ich …«, begann er zu protestieren, aber es gab keine Antwort auf Aurians Anschuldigung. Anvar spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Sie hatte recht – sosehr es ihn schmerzte, das zugeben zu müssen. Plötzlich sah er das geflügelte Mädchen in einem anderen Licht.
Aurian drückte entschuldigend seine Hand. »Rabe hat sich verändert«, sagte sie sanft. »Sie ist erwachsen geworden – genau wie wir. Sie weiß es jetzt besser. Sie hat für ihre Dummheit bezahlt, genauso wie du und ich. Verdient sie nicht auch eine Chance, ihre Fehler wiedergutzumachen?«
Anvar seufzte. »Ich verstehe, was du meinst – aber, Aurian, wie kannst du ihr vertrauen? Wie kannst du sicher sein, daß sie diese Gerüchte nicht selbst in Umlauf gesetzt hat, um uns loszuwerden? Hast du dich denn nie gefragt, ob sie die Harfe begehrt?«