Aurian zuckte mit den Schultern. »Ich vertraue ihr keineswegs blind – das wäre mehr als dumm von mir. Aber für den Augenblick bin ich bereit, die Dinge im Zweifelsfall zu ihren Gunsten auszulegen. Wenn die Situation so heikel ist, wie sie behauptet, dann hat Rabe mehr als genug zu tun mit ihren eigenen Schwierigkeiten.«
Anvar bohrte seine Stiefelspitze in die frisch umgegrabene Erde. »Das geschieht ihr ganz recht. Was mich betrifft, haben sich die Himmelsleute als genauso arrogant, undankbar und verräterisch erwiesen, wie die Legenden es behaupten. Sollen sie ruhig hier oben bleiben und sich gegenseitig an den Kragen gehen bis zum Ende aller Tage – aber …« Ein feuriges Blitzen stand in seinen Augen. »Wenn einer von ihnen versuchen sollte, mir die Harfe zu stehlen, dann wird er den Tag verfluchen, an dem er geboren ist!«
Aurian schloß ihn in ihre Arme. »Wenn jemand dumm genug wäre, das zu versuchen, dann müßte er es mit uns beiden aufnehmen!« Achselzuckend schob sie den Gedanken an die Geflügelten beiseite. »Wir haben alles, was in unserer Macht stand, für die Bürger von Aerillia getan. Jetzt wird es Zeit, daß wir unsere Gedanken wieder auf unsere Reise nach Norden konzentrieren. Außerdem kann es nicht mehr lange dauern, bis unsere Verbündeten die Xandim-Festung erreichen.«
Rabe, die mit kräftigen Schlägen ihrer kürzlich erst geheilten Schwingen auf den Gipfelpalast zuflog, blickte mit einer Mischung aus Stolz und Kummer hinunter auf den schimmernden Wald aus Türmen, Domen und Kuppeln. Sie war jetzt Königin, und all dies gehörte ihr – genauso wie die Lasten und die Verantwortung, die mit der Herrschaft einhergingen, rief sie sich ungehalten ins Gedächtnis und schämte sich erneut für das Verhalten ihres Volkes. Die grausame Herrschaft Schwarzkralles war zu Ende, und der unbarmherzige Winter, der so viele Geflügelte dahingerafft hatte, war bezwungen – aber um welchen Preis? Traurig blickte sie zu der zerstörten Ruine des Yinze-Tempels empor – er war ein schauerliches Bauwerk gewesen, aber wieviel unwiederbringliches Wissen mochte unter dem Berg gefallener Steine verlorengegangen sein?
Das geflügelte Mädchen richtete seinen Blick nun wieder nach unten, auf diese gewaltige Wunde in den Bergen, an der Stelle, an der der Turm des Hohepriesters eingestürzt war und so viele geringere Unterkünfte – und Menschenleben – mit sich in die Tiefe gerissen hatte. Dann suchten ihre Augen den Turm der Königin, ihren Bestimmungsort – und den Ort, an dem ihre Mutter unter furchtbaren Qualen den Tod gefunden hatte. Und noch immer lauerte irgendwo Schwarzkralles Vermächtnis; es würde lange, sehr lange dauern, falls es überhaupt je gelingen konnte, seinen bösartigen Einfluß mit Stumpf und Stiel auszureißen. Rabe seufzte, nahm sich dann jedoch ein Beispiel an der unerschrockenen Aurian und hob stolz das Kinn. Nun, so sei es. Nichts konnte diese Opfer ungeschehen machen – und Flammenschwinge, ihre Mutter, hatte ihr wieder und wieder eingeschärft, daß kein Opfer vergeblich sein würde, solange es nur wirklich und wahrhaftig zum Besten ihres Volkes war. Als Königin wußte Rabe, daß sie – und nur sie allein – für das Wohl des Volkes sorgen mußte. Und bei Yinze, das würde sie auch tun!
»Eure Majestät – Eure Majestät! Bitte …«
Die schrille, piepsige Stimme, die die Königin der Geflügelten aus ihren königlichen Gedanken gerissen hatte, endete mit einem erschrockenen Aufkreischen – und dem zornigen Brüllen eines Wachpostens. Rabe hielt inne und kreiste kurz über der Stelle, von der das Geräusch gekommen war, um den Grund für den Aufruhr herauszufinden. Dann weiteten sich ihre Augen vor Überraschung, als sie auf einem Balkon der näher gelegenen Türme ein kleines braunflügeliges Kind in der unerbittlichen Umklammerung eines finster dreinschauenden Wachmanns sah. Das kleine Mädchen trat fluchend um sich und stieß Beschimpfungen aus, die eigentlich kein Kind kennen dürfte. Rabes Lippen zuckten, und mit einem unwillkürlichem Lächeln dachte sie an ihre eigene rebellische Kindheit zurück. Also schob sie ihre Sorgen für den Augenblick beiseite und zwang ihrem Gesicht einen Ausdruck königlicher Würde auf, bevor sie zu dem Turm hinüberflog, um den kleinen Eindringling selbst zu befragen.
»Laß mich los! Du dreckiger Aasfresser! Zu was Besserem taugst du nämlich nicht, als einem verwesenden Leichnam das Fleisch abzupicken! Laß mich …« Die Worte gingen in einem lauten Wimmern unter, als der Wachposten seiner Gefangenen eine Ohrfeige gab.
»Gütiger Himmel – wer hat dir bloß solche Ausdrücke beigebracht?« Rabe hielt es für angebracht, einzuschreiten, bevor die Angelegenheit weiter ausuferte.
Das Kind, das zu beschäftigt mit seinem Geschrei gewesen war, um die Ankunft der Königin zu bemerken, drehte abrupt den Kopf, und sein Mund formte ein »Oh!« der Überraschung, das sich schnell in Entsetzen verwandelte. »Euer Majestät!« stieß die Kleine hervor, wand sich in den Armen der Wache hin und her, und versuchte verzweifelt, sich höflich zu verbeugen.
Rabe kämpfte eine Woge der Zärtlichkeit nieder. Am liebsten hätte sie die braunen Locken des kleinen Mädchens zerzaust. Statt dessen sagte sie nun mit strenger Stimme: »Was hat das zu bedeuten? Warum versuchst du, in den Palast einzudringen?«
»Ich habe sie schon einmal erwischt, Euer Majestät«, unterbrach der Wachposten sie. »Das kleine Biest hat versucht, sich ins Thronzimmer zu schleichen. Wollte mir einen gewaltigen Bären aufbinden, von wegen einer dringenden Nachricht für Euch. Ich habe sie vorhin schon weggeschickt, aber irgendwie hat sie sich wieder angeschlichen …«
»Still!« befahl Rabe ihm. »Sind wir denn immer noch in den Händen eines Tyrannen, daß du Kinder schikanierst? Und jetzt laß sie endlich los, um Yinzes willen. Wenn sie eine Nachricht für mich hat, wird sie wohl kaum davonfliegen.« Dann wandte sie sich wieder an das kleine Himmelsmädchen. »Nun, mein Kind, wie heißt du? Und was ist das für eine Botschaft, die du deiner Königin bringen willst?«
Das Kind, das dem Griff der wütend dreinschauenden Wache endlich entrinnen konnte, strich in dem vergeblichen Versuch, ein wenig würdiger zu erscheinen, seinen Rock glatt und neigte abermals die Flügel vor seiner Königin. »Vielen Dank, Euer Majestät«, piepste sie. »Wenn es Euch interessiert, mein Name ist Linnet. Und ich habe wirklich eine Nachricht – eine wichtige sogar – von der Katze Hreeza.«
»Du warst also das tapfere Kind, das sie gerettet hat!« sagte Rabe. Sie war sehr erstaunt gewesen, als sie von Aurian erfahren hatte, daß ein Mitglied ihres Volkes – und noch dazu ein kaum flügge gewordenes Kind – in der Lage war, sich mit Hilfe von Gedankenrede mit den großen Katzen zu verständigen. Sie hatte eigentlich vorgehabt, in dieser Sache weitere Nachforschungen anzustellen, aber … Mit einem ungeduldigen Achselzucken fegte Rabe ihre Gedanken beiseite. Jetzt jedenfalls war das Kind hier. »Und wie lautet diese Botschaft?« fragte sie.
Linnet warf der Wache einen finsteren Blick zu. »Sie hat gesagt, es sei persönlich.«
Die Königin lachte. »Na, dann komm mit, Kleine. Wir werden uns in meine Gemächer begeben und feststellen, ob wir da eine Erfrischung finden, wie sie einem königlichen Boten zusteht.«
»Sie hat was gesagt?«
Linnet zuckte angesichts der Eindringlichkeit, mit der die Königin sprach, zusammen. In was für Schwierigkeiten hatte diese verflixte Katze sie jetzt schon wieder gebracht? Würde man sie nun in Schande aus diesen gemütlichen königlichen Gemächern werfen? Ich habe Hreeza schon gesagt, ihre Idee sei verrückt, dachte sie reuig. Linnet nahm noch einen gewaltigen Bissen von dem süßen Kuchen in ihrer Hand – er schmeckte so gut, und wenn man sie wirklich hinauswerfen würde, konnte sie genausogut … Aber weiter kam sie nicht mehr, denn der süße Kuchen geriet ihr, was keineswegs verwunderlich war, in die falsche Kehle.