Als die Königin aufhörte, ihr auf den Rücken zu klopfen, und ihr ein Glas Wasser zu trinken gereicht hatte, hatte Linnet die ursprüngliche Frage bereits vergessen. Sie errötete vor Verlegenheit, als Königin Rabe wiederholte: »Also Linnet, dann erzähl mir noch einmal, was genau Hreeza gesagt hat.«
»Sie sagte, sie habe eine dringende Bitte.« Linnet runzelte konzentriert die Stirn und bemühte sich, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. »Sie läßt fragen, ob Ihr bereit wäret zu warten, bis die anderen fort sind, die Magusch und die Katzen, und ob Ihr ihr dann Träger zur Verfügung stellen würdet, die sie in das Land ihres Volkes zurückbringen.«
»Aber in Yinzes Namen, wozu soll das gut sein?« Die Königin sah Linnet ratlos an. In ihrer Betroffenheit schien sie ganz vergessen zu haben, daß sie mit einem Kind sprach. »Shia meinte, sie und ihr Freund seien Gesetzlose in ihrem eigenen Land und könnten nicht zurückkehren, ohne ihr Leben dabei aufs Spiel zu setzen …«
»Das ist ja auch der Grund, warum es ein Geheimnis bleiben muß«, erklärte ihr Linnet. »Wenn die anderen es nämlich herausfänden, würden sie sich große Sorgen machen und sie nicht gehen lassen. Hreeza sagt, daß ihre Königin böse sei – ganz anders als Ihr«, fügte das Kind hastig hinzu und errötete. »Und wenn niemand die Sache mit ihr regelt, wird die böse Königin immer eine heimliche Gefahr für Aurian darstellen. Aber Hreeza hat einen Plan – einen wunderbaren Plan. Wenn es ihr nur gelänge, schnellstens nach Hause zu kommen …«
»Nun mal langsam!« Stirnrunzelnd hob die Königin eine Hand, um das Mädchen zum Schweigen zu bringen. »Linnet, du solltest besser mit mir kommen und noch einmal mit Hreeza reden. Wenn du für mich übersetzt, könnte ich mir diesen Plan selbst anhören. Was die Magusch dazu sagen würden, wenn sie davon wüßten …«
Linnet spürte, wie das Gewicht der Verantwortung von ihren Schultern abfiel. In ihrer Erleichterung vergaß sie sogar den hohen Rang ihrer Gesprächspartnerin und schoß wie der Blitz um den Tisch herum, um nach Rabes Hand zu greifen. »Laßt uns sofort hingehen«, sagte sie aufgeregt. »Ich selbst habe es nicht verstanden, aber Ihr werdet es sicher tun. Und Hreeza ist sehr klug, darum muß es einfach ein wirklich guter Plan sein …«
Als das aufgeregte Kind Rabe aus dem Zimmer zog, hob diese für einen kurzen Atemzug die Augen gen Himmel. »Das will ich stark hoffen«, murmelte sie bei sich. »Sonst ziehen Aurian und Shia mir das Federkleid über die Ohren.«
6
Der Sturm bricht los
Die kleine Schar von Xandim-Soldaten war nur noch wenige Tagesreisen von ihrem Bestimmungsort entfernt, und die Aufregung innerhalb der Gruppe wurde immer deutlicher spürbar, während sie sich langsam ihrem Heimatland näherte. Sie waren hoch hinauf in die große Gebirgskette geklettert und freuten sich schon auf den Tag, an dem sie über das Dach der Welt schauen und die vertraute Gestalt ihres heiligen Berges sehen würden: dem wie ein Versprechen in der Ferne aufblitzenden Windschleier.
An jenem Abend hätte die Stimmung am Lagerfeuer gar nicht besser sein können, und unter Plaudern und Gelächter wurde die Flasche von einer Hand zur anderen weitergereicht. Das Xandim-Mädchen stahl sich von den Kriegern weg, die sich in dem hellen Kreis des Feuerscheins zusammendrängten. Nach all den Monaten in beinahe vollkommener Einsamkeit fand Iscalda die Gegenwart so vieler Menschen mitunter immer noch erdrückend und wünschte sich, für eine Weile allein zu sein – im Einklang mit der gewaltigen Stille der Nacht. Auf leisen Sohlen schlich sie an den Wachposten vorbei und wagte sich ein Stückchen weiter vom Lager weg, bis das leise Summen von Stimmen und auch der letzte Widerschein des Feuers verschwunden waren und die Sterne wieder hell und leuchtend über ihr standen.
Iscalda löste das wellige, geflochtene Banner ihres Haares und ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten, damit der Wind, der von den schneebedeckten Gipfeln herunterwehte, ihre Arme mit seinen eisigen Fingern berühren und ihre nackten Glieder mit prickelnder Gänsehaut überziehen konnte. Sie schauderte wohlig und gab sich ganz dem herrlichen Gefühl hin, wieder in menschlichem Fleisch zu stecken. Für sie war dieser Marsch zurück durch die Berge in Richtung Heimat zu einer wunderbaren Entdeckungsreise geworden. Solange war sie in ihrer Pferdegestalt gefangen gewesen, daß sie beinahe solch einfache und gewöhnliche Eindrücke vergessen hatte, wie es der glatte Fluß von Leinen und die rauhe Berührung von Wolle auf der Haut waren; der Geschmack von heißem Essen in ihrem Mund und das kaum spürbare Gewicht eines Lederumhangs um ihre Schultern; die berauschende, allumfassende Wärme starker Arme, die sie umfingen, und die Freude des Lachens, das man mit einem Freund teilt. Bilder, Geräusche, Düfte, Gefühle – all das waren erregend neue Erfahrungen für sie, und es war, als koste sie das alles zum ersten Mal in ihrem Leben. In diesen wenigen vergangenen Tagen hatte Iscalda sich wieder wie ein Kind gefühlt, das voller gespannter Erwartung dem Morgen der Welt entgegenrannte.
»Ist dir nicht kalt?«
Iscalda zuckte bei dem Klang der leisen Stimme hinter ihr zusammen. Als sie herumfuhr, fand sie sich Auge in Auge mit Yazour. Er war der letzte gewesen, von dem sie erwartet hätte, daß er sie in ihrer eigenen Sprache ansprechen würde. Während der Reise hatte ihre Hauptbeschäftigung darin bestanden, alte Freundschaften mit ihren eigenen Leuten zu erneuern, und sie hatte ganz vergessen, daß Chiamh, das Windauge, den Sprachzauber auf den Fremden ausgedehnt hatte, so daß dieser sich verständlich machen konnte. Mit einem überraschten Aufschrei wich sie hastig einen Schritt zurück und zog sich den Umhang wieder um die Schultern.
Der junge Krieger neigte entschuldigend den Kopf. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Nein?« fragte Iscalda spitz. »Du schleichst dich auf leisen Sohlen an wie ein Schwarzer Geist aus den Bergen und sprichst mich plötzlich aus der Dunkelheit heraus an. Was hast du denn erwartet?«
Yazour lachte. »Jetzt hast du mich ertappt. Ich wollte bloß sagen, daß ich nicht mit dieser Absicht hierhergekommen bin. Um ehrlich zu sein, bin ich vom Feuer weggegangen, um einem viel profaneren und drängenderen Bedürfnis nachzugeben, aber bei meiner Rückkehr sah ich dich hier stehen, so ganz allein in der Dunkelheit.« Er zögerte. »Muß ich zugeben, daß es Neugier war, die mich getrieben hat, dich anzusprechen? Seit deiner Rettung hatten wir keine Gelegenheit, unter vier Augen miteinander zu reden, und …«
»Und?« In Iscaldas Stimme schwang eine unüberhörbare Schärfe mit. Sie wußte jetzt schon, wohin das führen würde. Als er ihr keine Antwort gab, sprach sie für ihn weiter. »Und dir ist eingefallen, was ich war, als du mich kennenlerntest. Und jetzt wolltest du wissen, ob ich mir als Frau die Instinkte eines niederen Tieres bewahrt habe – wie es ist, wenn man jedem dahergelaufenen Mann aufs Wort gehorchen muß …«
»Nein!« Yazours heftiger Protest brachte sie zum Verstummen. »Du mißverstehst mich völlig. Ich habe mich nur gefragt, wie es möglich ist, daß das prachtvollste Pferd, das ich je gesehen habe, wie durch Magie in die allerschönste Frau verwandelt werden konnte. Ich wünschte, ich würde die Natur deiner Rasse verstehen – und doch, wenn eure Krieger sich am Lagerfeuer miteinander unterhalten, hält mich immer irgend etwas – vielleicht die Angst, jemandem zu nahe zu treten – davon ab, diese Frage zu stellen. Vor allem deshalb, weil mein Volk und das deine ja seit so langer Zeit verfeindet sind. Und doch hatte ich das Gefühl, daß du mir wegen der langen Tage, die wir gemeinsam in der Höhle gefangen waren, eine gewisse Freundschaft entgegenbringst. Ich weiß, daß deine Gedanken damals nicht einfach nur die eines bloßen Tieres gewesen sein können. In der Nacht, in der du mich zum Turm gebracht hast, hast du meine Not verstanden, und als ich dich heute abend sah, dachte ich, daß du mich vielleicht – besser als jeder andere – verstehen würdest und bereit wärest, eine mögliche Kränkung durch einen Außenseiter und ehemaligen Feind zu vergeben.«