Iscalda fühlte sich von seinen Worten geschmeichelt und war nicht wenig überrascht. »In gewissem Sinne war es sehr klug von dir, daß du nicht die Krieger gefragt hast«, überlegte sie. »Früher einmal hätten deine Fragen – ja, schon deine bloße Anwesenheit in unserem Land deine augenblickliche Hinrichtung bedeutet. Und doch habe ich nicht das Gefühl, daß du mein Feind bist, Yazour. Wenn das, was ich von Chiamh gehört habe, der Wahrheit entspricht, daß nämlich dein Volk schon bald in einen Krieg eintreten wird, dann wird das Geheimnis unserer doppelseitigen Natur, das die Xandim so lange Zeit so eifersüchtig gehütet haben, in jedem Falle bald heraus sein.« Sie lächelte ihn an. »Also, stell deine Fragen, Yazour, und ich werde mich bemühen, deine Neugier zu befriedigen.«
Der junge Krieger breitete hilflos die Hände aus. »Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll«, gestand er. »Ich – nun ja, da ist eine Sache, die mich besonders verwirrt …«
Iscalda lachte. »Du willst wissen, was mit den Kleidern passiert?« Selbst in dem schwachen Licht konnte sie sehen, daß er errötete. Um sie beide vor weiteren Peinlichkeiten zu bewahren, fuhr sie schnell fort. »Die verschiedenen Kleidungsstücke scheinen einfach auch nur ein Teil von uns zu sein und verändern sich, wie wir es tun – in Pferdehaar vielleicht –, wer weiß? Du könntest das Windauge danach fragen. Leder, Wolle, Flachs, Zügelriemen, geschnitztes Horn oder Knochen – alles, was einst lebendig war, verändert sich mit uns. Waffen, Schnallen, persönliche Besitztümer aus Metall oder poliertem Stein – solche Dinge verändern sich dagegen nicht. Wenn wir solche Gegenstände mitnehmen wollen, muß ein anderer sie für uns tragen, einer, der sich seine menschliche Gestalt bewahrt hat. Das erscheint manchmal unbequem, aber die Kleider sind jedenfalls immer da, wenn wir uns zurück in unsere Menschengestalt verwandeln, und das ist ja das wichtigste.«
Yazour lächelte. »In Anbetracht des barbarischen Klimas, das in diesen Bergen herrscht, kann ich nicht umhin, dir da voll und ganz zuzustimmen.«
Iscalda hatte schon bemerkt, daß der junge Mann stets mehr Kleider zu brauchen schien als ihre eigenen Leute, und doch hatte man ständig den Eindruck, daß er zitterte. Chiamh hatte ihr erzählt, daß die Sonne dort, wo Yazour herkam, viel heißer brannte, aber das lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie sollte jedoch keine Gelegenheit mehr bekommen, ihn danach zu fragen, denn schon hatte er selbst wieder das Wort ergriffen. »Wie ist dein Volk zu dem geworden, was es jetzt ist? Welche Geschichte habt ihr?«
Nun war es an Iscalda, mit den Schultern zu zucken. »Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Niemand weiß, woher wir kamen oder wie wir wurden, was wir sind – nicht einmal das Windauge. Es scheint, als hätten wir immer hier gelebt und wären immer das gewesen, was wir sind.«
»Und doch wußtet ihr, daß ihr anders wart als andere Rassen«, meinte Yazour nachdenklich.
»Ich glaube schon.« Iscalda nickte. »Das ist auch der Grund, warum wir die Fähigkeit, unsere Gestalt zu ändern, immer geheimgehalten haben. Verzeih mir, Yazour, aber dein eigenes Volk, die Khazalim, waren immer berüchtigt dafür, daß sie andere Rassen versklavten – und stell dir nur vor, welch nützliche Sklaven wir Xandim abgeben würden, wenn die Wahrheit bekannt würde!«
»Niemand wird euch versklaven!« Die Nachdrücklichkeit von Yazours Antwort überraschte Iscalda. »Das Geheimnis der Xandim wird bei mir immer sicher aufgehoben sein«, versicherte er ihr. »Selbst wenn es anders wäre, im Land der Khazalim gelte ich als Verbannter, und es ist mir bei Todesstrafe verboten zurückzukehren. Ich schulde dem Khisu keine wie auch immer geartete Gehorsamspflicht.«
Iscalda spürte, wie sich ihr Herz aus Mitleid mit dem jungen Krieger zusammenkrampfte. Auch sie war eine Verbannte gewesen, und sie kannte die Bitterkeit und das Gefühl des Verlustes, das er verspüren mußte. Sie biß sich auf die Lippen. »Du weißt doch«, sagte sie leise, »daß man dir, jetzt da du unser Geheimnis kennst, niemals erlauben würde, in deine Heimat zurückzukehren – selbst wenn du es wolltest.«
Yazour nickte ernst. »Das habe ich mir schon gedacht. Aber es spielt ohnehin keine Rolle. Mein Weg führt jetzt nach Norden. Wo Aurian und Anvar hingehen, da werde auch ich hingehen – und wenn ich den bevorstehenden Krieg überlebe, dann …« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, dann werden wir weitersehen. Aber eines kann ich dir versprechen. In das Land meiner Geburt werde ich niemals zurückkehren.«
»Niemals?« Iscalda seufzte. Der junge Krieger tat ihr von Herzen leid. »Das scheint mir doch ein allzu grausames Schicksal zu sein …«
»Iscalda! Was treibst du da hinten, wo kein Mensch dich sehen kann?« Iscalda erkannte die vertraute Silhouette Schiannaths, der als ein dunkler Schatten vor dem Widerschein der Feuer auf sie zu ging. »Zumindest hattest du genug Verstand, nicht allein wegzugehen«, fügte er hinzu – aber als er sich näherte und ihren Begleiter erkannte, hörte Iscalda, wie sich eine Andeutung von Zweifel in seine Stimme schlich. Sie fühlte sich zu einer schnellen Verteidigung des Mannes an ihrer Seite genötigt.
»Behandele mich nicht wie ein Kind, Schiannath.« Die Worte klangen schärfer, als Iscalda beabsichtigt hatte, und sie versuchte hastig, einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen. »Ich weiß, daß sich niemand allein und ohne Wache vom Lager entfernen sollte, lieber Bruder – aber nach der langen Zeit unserer Einsamkeit sind mir so viele Leute manchmal einfach zuwider. Ich habe mich davongeschlichen, um allein mit der Nacht zu sein, aber Yazour hat mich entdeckt und genau dasselbe gedacht wie du. Als er mich hier fand, ist er freundlicherweise hiergeblieben, um mir Gesellschaft zu leisten.«
»Ja, wirklich«, unterstützte Yazour sie. »Aber um die Wahrheit zu sagen, Schiannath, habe ich mich auch über die Gelegenheit gefreut, deine Schwester endlich auch in ihrer Menschengestalt kennenzulernen.«
Schiannath schob sich zwischen die beiden und legte jedem von ihnen einen Arm um die Schultern. Sein Atem hatte den honigsüßen Duft von Met, und als er sein Gewicht auf sie stützte, begriff Iscalda, daß er dem Wein, den die Xandim-Träger bei sich trugen, heftig zugesprochen haben mußte; Flaschen, die übrigens angeblich für Notfälle mitgenommen wurden. »Du mißverstehst mich, Schwester«, sagte er zu ihr, aber seine Worte klangen schon leicht verschwommen. »Yazour, du bist, soweit es mich betrifft, kein Feind. Du magst zwar ein Fremdländer sein –, aber hat nicht die Göttin selbst mir den Befehl gegeben, mich mit dir anzufreunden?«
»Was?« Das war das erste Mal, daß Iscalda diese Geschichte hörte. Sie hatte eine vage Pferdeerinnerung daran, im Paß einer großen Katze begegnet zu sein – die Erinnerung an Entsetzen, an Blut und Zorn – und an den halb vergrabenen, instinktiven Drang, ihren geliebten Bruder um jeden Preis vor dem Angreifer zu schützen. Und sie erinnerte sich auch an Yazour – ein stilles dunkles Bündel, dessen Blut und Leben langsam in den eiskalten Schnee rannen.
Ihr Bruder machte sich nun daran zu erklären, wie die Göttin Iriana persönlich ihm in Gestalt eines der großen Schwarzen Geister im Paß jenseits des Turmes von Incondor den Befehl gegeben hatte, den verwundeten Krieger unter seine Fittiche zu nehmen. Iscalda lauschte ungläubig, während er seine Geschichte erzählte – bis sie aus den Augenwinkeln sah, daß Yazours Lippen vor unterdrückter Belustigung zuckten. Eine Göttin, wahrhaftig! Der junge Krieger wußte oder argwöhnte in dieser Angelegenheit mehr, als er preisgab, und Iscalda war fest entschlossen, dieser Sache auf den Grund zu sehen – aber nicht jetzt.
»Du siehst also«, sagte Schiannath nun, »daß ich dich Yazour durchaus anvertrauen würde. Zuerst habe ich seine Freundschaft gesucht, weil es mir befohlen war, aber später hat er meinen ehrlichen Respekt gewonnen. Was die übrigen Xandim betrifft, liegt die Sache allerdings anders.«