Aurian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Sie blickte aus dem Fenster. »Es ist allerdings wieder dunkel, also müssen wir den ganzen Tag verschlafen haben.« Sie seufzte. »Ich schätze, sie werden jetzt bald kommen, um uns zu holen – zu Rabes Festbankett, das wahrscheinlich kein besonderer Schmaus werden wird. Dieser Winter hat den Himmelsleuten kaum etwas zu essen gelassen.«
»Ganz so schlimm wird es schon nicht werden«, erwiderte Anvar. »Während du dich heute morgen mit Shia unterhalten hast, sind Rabe wieder die Vorräte eingefallen, die wir im Wald am Rande der Diamantwüste zurückgelassen haben. Sie hat sich mit einer ganzen Schwadron Geflügelter auf den Weg gemacht, um sie herbeizuschaffen. Und um ihre jüngst zurückgewonnene Fähigkeit des Fliegens zu erproben«, fügte er stirnrunzelnd hinzu.
»Dieses verflixte Mädchen! Ich habe ihre Flügel gerade erst geheilt – und das war alles andere als einfach«, sagte Aurian. »Es war völlig falsch von ihr, sich so früh schon wieder einer solchen Belastung auszusetzen!«
Anvars Stirn war immer noch gerunzelt. »Und ich verstehe nicht, warum du es überhaupt getan hast«, brach es wütend aus ihm hervor. »Nachdem sie uns so schmählich verraten hat, hätte sie es wahrhaftig nicht verdient.«
»Pssst, Liebster.« Aurian legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »Du warst immer noch in Schwierigkeiten hier in Aerillia, und Shia saß irgendwo in der Falle, erinnerst du dich? Ich wußte, ihr wart beide in Gefahr, und ich mußte auf schnellstem Wege hierher – ich brauchte einfach Rabes Hilfe.« Sie blickte hinunter auf Shia, die sich in tiefem Schlaf zusammengerollt hatte und den größten Teil des Platzes in dem merkwürdig aussehenden kreisförmigen Ding einnahm, das die Geflügelten als Bett benutzten.
Die große Katze war immer noch erschöpft von ihrem heroischen, beinahe unmöglichen Aufstieg über die schroffen Felsen nach Aerillia, um Anvar den Stab der Erde zu bringen – und ihr Anteil an dem Kampf, der in Incondors Tempel stattgefunden hatte, hatte zum Tod von Schwarzkralle geführt, dem bösen und korrupten Hohenpriester der Geflügelten. Shia war außerdem schwer gezeichnet von ihrem Kummer über das Schicksal Hreezas, der heldenhaften, kühnen, scharfzüngigen alten Katze, die ihre Freundin gewesen und im Tempel brutal niedergemetzelt worden war – von einem blutdurstigen Mob Geflügelter. Aurian seufzte. Noch immer hatte man die Leiche der armen Hreeza nicht gefunden.
»Es tut mir leid.« Anvars Stimme riß die Magusch aus ihren traurigen Gedanken. »Ich weiß, daß du gute Gründe hattest, Rabe zu heilen. Es ist nur – na ja, es macht mich wütend, das ist alles. Nach allem, was wir durchlitten haben, weil sie uns verraten hat …« Mit einiger Mühe gelang es ihm schließlich, das Thema zu wechseln. »Na ja, Rabe kann warten. Was waren diese Alternativen, von denen du gesprochen hast, als ich aufgewacht bin?« Jetzt grinste er, und in seinen Augen stand ein schalkhaftes Zwinkern.
»Erlaube mir, es zu demonstrieren.« Eine Woge ungetrübten Glücks riß Aurian mit sich, als sie den mittlerweile wieder funkelnden Coronach, ihr kostbares und so lange nicht mehr benutztes Schwert, das sie aus dem Turm Incondors gerettet hatte, zurück in seine Scheide gleiten ließ und die Hand nach ihrem Liebsten ausstreckte. Sie ließ ihre Finger durch Anvars seidiges goldenes Haar gleiten und verlor sich in den blauen Tiefen seiner Augen. Ihre Arme umfingen ihn, seine Haut fühlte sich weich und glatt an unter ihrer Berührung, sein Körper, von den Entbehrungen ihres Feldzugs hart geworden, war auf Knochen, Muskeln und Sehnen reduziert. Seine Arme hießen sie willkommen …
Und ausgerechnet in diesem Augenblick hörten sie das Schwirren großer Schwingen auf der Landeplattform draußen vor ihrer Turmwohnung, gefolgt von einem donnernden Klopfen an der Tür und dem Klirren von Stahl, als Yazour und Chiamh im Nebenzimmer ihre Waffen zogen, wo sie zusammen mit Khanu, Shias zweitem Katzenkumpan, geschlafen hatten.
Aurian fluchte leise und tastete nach ihren Kleidern, die achtlos hingeworfen vorm Bett lagen.
»Was soll das denn schon wieder?« murrte sie verdrossen.
Der geflügelte Bote, der nun eingelassen wurde, befand sich in einem Zustand beträchtlicher Erregung. »Kommt schnell, kommt schnell!« rief er. »Etwas Furchtbares passiert in den Ruinen des Tempels. Wir haben Schreie gehört …«
»Das ist nicht fair!« brummte Linnet. Mit gerunzelter Stirn und wütendem Blick betrachtete das geflügelte Kind die mittlerweile verlassenen Ruinen von Yinzes Tempel und trat gegen einen Stein, der oben auf einem wackligen Haufen gelegen hatte. Der Stein holperte davon und zog einen kleinen Sturzbach weiterer Kieselsteine mit sich, die mit munterem Klappern hinter ihm her rutschten. Linnet sprang erschrocken zurück und breitete ihre Flügel aus, als wolle sie fliehen. Halb erwartete sie die tadelnde Stimme eines Erwachsenen hinter sich zu hören – beim Vater der Himmel, der Tempel war auch ohne ihr Zutun hinreichend zerstört –, aber kein Laut war zu hören bis auf das scharfe, langsam ersterbende Echo der klappernden Steine. Niemand war da, der Linnet hätte ausschimpfen können – niemand hatte bisher auch nur bemerkt, daß sie nicht mehr zu Hause saß, dachte das geflügelte Kind mit einem Anflug von Selbstmitleid. Die Erwachsenen waren alle drüben im Palast und feierten die unerwartete Einkehr des Frühlings in ihr Land, die Thronbesteigung der neuen Königin und die Wiederentdeckung der Harfe der Winde durch irgendeinen fremden, ausländischen, flügellosen Zauberer. Linnets kleiner, aber bedeutungsvoller Anteil bei diesen wunderbaren Ereignissen schien allgemein in Vergessenheit geraten zu sein.
»Das ist einfach nicht fair!« murmelte Linnet noch einmal. »Bei Yinze – dabei hätte ich eigentlich als Heldin gefeiert werden sollen!« Hatte Cygnus, der weißgeflügelte Himmelsmann, ihr nicht etwas Derartiges versprochen? Hatte sie nicht eigenhändig die Nachricht überbracht, daß die Königin von Schwarzkralle, dem bösen Hohenpriester, gefangengehalten wurde? Und das trotz der Androhung schwerster Bestrafung durch ihre Mutter, weil sie schließlich an einem Ort gespielt hatte, an dem sie auf keinen Fall hätte sein dürfen! Linnet setzte sich auf einen heruntergestürzten Balken und stützte ihr Kinn unglücklich in die Hände. »Dieser Cygnus hat mir außerdem eine Belohnung versprochen«, seufzte sie. »Aber bei dem ganzen Theater und der Aufregung über alles andere wird er sich daran wohl nicht mehr erinnern.«
Viele Dinge waren in Vergessenheit geraten, seit der seltsame flügellose Zauberer mit den Augen von der Farbe des Himmels aus dem Nichts in dem zerstörten Tempel erschienen war, in den Händen die Harfe der Winde. Linnet konnte nicht begreifen, was das ganze Theater eigentlich sollte. Eine Harfe – na und? Also wirklich, der alte Martin, der Instrumentenbauer, konnte Dutzende von Harfen machen! Nun ja, das Ding sah wirklich hübsch aus, soviel stand fest; es blitzte und funkelte, als wäre es aus reinstem Mondlicht und dem Blinken von tausend Sternen gefertigt – zumindest war dies Linnets flüchtiger Eindruck gewesen, bevor Louette, ihre Mutter, sie weggezerrt hatte, damit sie sich um ihren kleinen Bruder Lark kümmerte, während Louette selbst mit allen anderen in den Palast ging.
»Und jetzt haben alle ihren Spaß, nur ich nicht«, grollte das geflügelte Kind mißvergnügt. Zitternd hockte Linnet sich auf den Boden und hüllte sich fest in ihre Flügel ein. Es mochte ja durchaus Frühling sein, aber die funkelnde, sternenklare Nacht war immer noch von beträchtlicher Kühle, als wollte der Winter trotz seiner Niederlage gegen die Macht der Harfe den Rückzug nicht antreten.
Linnet versuchte, sich an dem Feuer ihres gerechten Zorns zu wärmen. »Ich sollte dort sein, im Palast! Ich sollte meine Belohnung dafür bekommen, daß ich die Königin gerettet habe – und nicht mit diesem kleinen Biest zu Hause sitzen!« Aber in Wahrheit wurde sie mittlerweile von Gewissensbissen gequält – denn sie war natürlich nicht zu Hause und kümmerte sich um Lark. Sobald ihr Bruder eingeschlafen war, war Linnet hinausgeschlichen und hatte sich auf den Weg zum Palast gemacht, in der Hoffnung, daß es ihr gelingen würde, sich so nah heranzuschleichen, wie sie es an jenem schicksalsschweren Tag getan hatte (war das wirklich erst gestern gewesen?), als sie die gefangene Königin gefunden hatte. Vielleicht konnte sie auch jetzt einen Blick durchs Fenster werfen und feststellen, was drinnen vor sich ging. Wenn sie nur die Aufmerksamkeit von Königin Rabes weißgeflügeltem Begleiter erregen könnte, ohne daß ihre Mutter sie zuerst sah, dann würde sie ihre Belohnung vielleicht doch noch bekommen.