Phalihas, der spürte, daß sein Reiter nicht bei der Sache war, versuchte, Parric mit einer Reihe heftiger Bocksprünge abzuwerfen. Fluchend setzte der Kavalleriehauptmann sich daraufhin im Sattel zurecht und drängte das Tier rasch zu einer schnelleren Gangart. Während das Pferd damit beschäftigt war, sich einen sicheren Weg durch das trügerische Gelände zu bahnen, würde ihm kaum noch Zeit bleiben, Schwierigkeiten zu machen.
Schwierigkeiten. Genau darauf lief es immer wieder hinaus. »Warum muß nur alles so verdammt kompliziert sein?« haderte Parric. Zu Hause, in seiner alten Stellung als Kavalleriehauptmann der Garnison von Nexis, war Parric allem gewachsen gewesen. Was auch von einem Soldaten verlangt werden konnte, es gab kaum einen, der besser damit fertig wurde als er – aber seit jenem Tag, an dem Forral, sein Freund und Kommandant, von dem korrupten Erzmagusch ermordet worden war, waren die Grundfesten von Parrics Welt ins Wanken geraten. Selbst Aurian, zu deren Rettung er nach Süden geeilt war, schien sich verändert zu haben …
Der Kavalleriehauptmann schüttelte unwillig den Kopf und hielt sich dann vor Augen, daß er ungerecht war. Du Narr, sagte er sich. Natürlich hat sie sich verändert. Nach allem, was das arme Mädchen durchgemacht hat … An dieser Stelle ließ seine Phantasie ihn jedoch im Stich. Verrat, Kampf und Tod konnte Parric verstehen, aber wenn es um Magie ging, war er völlig hilflos. Nach all dieser Zeit brachte er es noch immer nur mit Mühe fertig, über das Schicksal von Aurians Erstgeborenem nachzudenken – Forrals Sohn. Nachdem der Erzmagusch das Kind dazu verflucht hatte, die Gestalt des ersten Tieres anzunehmen, das seiner Mutter nach seiner Geburt vor Augen kam, hatte es sich in ein Wolfsjunges verwandelt.
Eine Woge des Zorns wallte in ihm auf, und Parric biß die Zähne zusammen. Bekäme er Miathan doch nur ein einziges Mal vor sein Schwert, um ihm die Grausamkeit heimzuzahlen, die er einem hilflosen Kind angetan hatte – vor allem, da der Junge alles war, was von Forral übriggeblieben war. In den geheimsten Winkeln seines Herzens hatte der Kavalleriehauptmann den Plan gehegt, sich um Aurian zu kümmern. Es hätte ihm ein Vergnügen und nicht eine Pflicht bedeutet, den Sohn seines Freundes und Kommandanten großzuziehen. Obwohl er nie zu hoffen gewagt hätte, Forrals Platz als Vater bei dem Jungen einzunehmen, war er doch fest entschlossen gewesen, sein Bestes zu geben. Der Junge wäre an die Stelle des Sohnes getreten, den er, Parric, nie (zumindest nicht wissentlich) gezeugt hatte. Aber wie, im Namen aller Götter, konnte ein Mann einem Wolfsjungen ein Vater sein? Außerdem hatte ein einziger Blick auf Aurian genügt, um dem Kavalleriehauptmann seine unrealistischen Vorstellungen auszutreiben.
Parric seufzte. Es war seine eigene Schuld, gestand er sich unglücklich ein. Er hatte in Aurian immer ein unschuldiges junges Mädchen gesehen, wenn sie mit Forral zusammen war. Der Schwertkämpfer war stets so voller Zuversicht und Kraft gewesen, daß alle um ihn herum im Vergleich zu ihm irgendwie zusammenschrumpften. Aber die stahläugige, von grimmiger Entschlossenheit beseelte Aurian, die Parric im Turm von Incondor vorgefunden hatte, hatte den Kavalleriehauptmann in Erstaunen versetzt und bis ins Innerste hinein erschüttert. Sie war reifer geworden, soviel stand fest, aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Was Parric jedoch nicht vorhergesehen hatte, war diese Aura von Macht, die sie umgab, die sie einhüllte wie ein Mantel, der aus einer unheimlichen Kraft gewoben war. Auch mit der Härte in ihren Augen hatte er nicht gerechnet, mit der bitteren Erfahrung, die sich in ihr Gesicht gemeißelt hatte, oder mit der praktischen Nüchternheit, die sie dazu veranlaßte, ihren neugeborenen Sohn in der Obhut Fremder zu lassen, während sie selbst zu anderen, drängenderen Taten aufbrach. Irgendwie erschien es ihm nicht richtig – obwohl er zugeben mußte, daß ihr Verhalten schierer Notwendigkeit entsprungen war.
Parric verfluchte sich dafür, daß er sich solch ungerechten Gedanken hingegeben hatte. Hatte er nicht schon oft starrsinnigen, weiblichen Kriegern wie Sangra und Maya gedient und für sie gekämpft? War Aurian nicht eine bessere Schwertkämpferin als sie alle zusammen – und daneben noch eine Magusch? Woher kam also dieser vollkommen unvernünftige Beschützerinstinkt, der im Zusammenhang mit Aurian immer wieder in ihm aufwallte? Es war beinahe so, als würde er von Forrals Schatten verfolgt. Aber das war einfach lächerlich, versuchte Parric sich einzureden, während er sich bemühte, auch die letzten Zweifel abzuschütteln. Schon bald würde er wieder zurück in der Xandim-Festung sein und sich um dringendere Fragen kümmern müssen. Außerdem würde er dort auch Aurian wiedersehen – und wenn sie erst einmal wieder mehr Zeit miteinander verbracht hatten, würden sie doch gewiß ihre alte Unbefangenheit im Umgang miteinander wiederfinden, oder?
Aurian und Anvar erreichten die Xandim-Festung mitsamt ihrer Eskorte Geflügelter und landeten feucht und durchgefroren in einem Nebel feinen Frühlingsregens, der von Sekunde zu Sekunde heftiger wurde.
»Uuh!« Aurian befreite sich vorsichtig aus dem Maschengewirr des Tragenetzes und versuchte, sich mit ihrer freien Hand den durchnäßten Umhang fester um die Schultern zu ziehen. Das Unternehmen wurde jedoch dadurch erschwert, daß Wolf in ihrem anderen Arm lag, selig schlafend und geborgen in der Wärme ihres Leibes. Über den beiden Magusch kreisten noch weitere Himmelsleute, die darauf warteten, ebenfalls landen zu können; sie trugen die wölfischen Pflegeeltern des Jungen. Die beiden boten ein jämmerliches Bild mit ihren nassen, stacheligen Pelzen, die ihnen am Leib klebten, und Aurian konnte spüren, daß beide unendlich erleichtert sein würden, wieder gute, feste Erde unter den Füßen zu haben. Das Ausmaß ihrer Geduld und ihrer Treue ihr und ihrem Kind gegenüber erfüllte Aurian mit Staunen und Demut.
Anvar, der sich plötzlich des unruhigen Gemurmels seiner geflügelten Eskorte bewußt wurde, versuchte, durch die tanzenden Regenschleier hindurchzuspähen. »Wo, zum Teufel, sind denn nur die anderen?« brummte er gereizt. »Selbst wenn sie keine Wachen aufgestellt haben, hätten sie doch irgend jemanden hier draußen postieren müssen. Nach dem, was unsere geflügelten Späher berichtet haben, hätten Parric und seine Leute mittlerweile längst hier sein müssen.«
»Diese nutzlosen Menschen«, knurrte Shia, während sie sich einen Sprühregen winziger Tröpfchen aus dem Fell schüttelte. »Anvar – würdest du uns bitte helfen?« Die Katze klang ernsthaft verstimmt. Sie und Khanu waren schnellstmöglich auf dem Boden abgesetzt worden – was, wie Anvar vermutete, auf eine nicht unbeträchtliche Nervosität von seiten ihrer geflügelten Träger zurückzuführen war. Die Himmelsleute hatten das Netz in einem absoluten Wirrwarr auf den Boden fallen lassen und sich daraufhin schnell in Sicherheit gebracht, so daß Shia und Khanu, die ja keine Hände hatten, mit denen sie die verhedderten Maschen ihrer Netze hätten aufknoten können, zunächst einmal gefangen waren. Anvar wischte sich den Regen aus den Augen und ging daran, seine Freunde zu befreien.
»Ich habe gerade mit Chiamh gesprochen«, beruhigte Aurian ihre Kameraden. »Er hat geschlafen – wie alle anderen auch. Sie haben uns nicht so früh erwartet. Chiamh meint, der letzte Teil ihrer Reise über den Windschleier sei furchtbar gewesen – als sie die Festung erreichten, seien sie alle zu Tode erschöpft gewesen. Er weckt sie jedoch alle auf und schickt uns eine Eskorte entgegen.«
»Wurde auch langsam Zeit«, murmelte Shia. »Diese faulen Zweibeiner …« Plötzlich fuhr ihr Kopf ruckartig in die Höhe. »Was war das?«
»Was?« Anvar runzelte die Stirn. Das Aufknoten des verfilzten Netzes hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit gefordert.
»Ich dachte, ich hätte etwas ge …«
Keiner von ihnen war auf das gefaßt, was als nächstes geschah. Eine schwarze Gestalt schoß unvermittelt aus der Dunkelheit auf Aurian zu. Behindert durch das Kind in ihren Armen, hatte die Magusch weder die Zeit noch die Möglichkeit zu reagieren. Und Anvar sah, noch während er auf die Füße sprang, wie seine Seelengefährtin zusammenbrach. Das Junge stieß ein erschrockenes Quietschen aus; dann war die Gestalt fort.