»Das wird sich noch herausstellen.« Shia, die ihr zusammen mit Khanu ängstlich über die Schulter spähte, stieß angsterfüllt mit der Schnauze vorsichtig gegen Hreezas Körper. »Wird sie überleben? Was glaubst du?«
Aurian hörte die unterschwellige Furcht in der Stimme der großen Katze. Ihre Zuneigung war diesmal von anderer Art, überlegte sie. Shia hatte, auch wenn sie von tiefster, ehrlicher Sorge erfüllt gewesen war, von Aurian oder Anvar oder irgendeinem anderen Mitglied ihrer Gruppe niemals auf dieselbe Art und Weise gesprochen. Aber diesmal hatte das Unglück ein Mitglied ihres eigenen Volkes getroffen. Aurian wünschte, sie könnte ihrer Freundin eine tröstliche Antwort geben, aber sie brachte es nicht fertig, Shia zu belügen. Dazu ging ihre Freundschaft zu tief.
Aurian untersuchte Hreeza mit ihren Heilerinstinkten, aber die Reaktion der alten Katze war nicht besonders vielversprechend. Trotzdem versuchte sie, optimistisch zu bleiben. »Wenn diese sture alte Kämpferin so zäh am Leben festhält, dann hat sie, glaube ich, jede Chance, solange wir nur schnell genug handeln.« Die Magusch schüttelte überrascht und unwillig den Kopf. »Gebrochene Knochen und alles, was dazugehört!« murmelte sie. »Sie muß mehr als einen Tag lang bewußtlos gewesen sein, sonst hättest du sie gehört, Shia. Ich nehme an, das Kind muß sie gestört haben – hat sie auf irgendeine Art und Weise aus dem Schlummer gerissen. Irgendwo in den Tiefen ihres Wesens muß sie begriffen haben, daß das ihre einzige Rettungschance war – aber dieser eine letzte, verzweifelte Kampf, Hilfe zu holen, hätte ihr beinahe den Rest gegeben …«
Noch während sie sprach, rief Aurian ihre heilenden Kräfte zu Hilfe, die jetzt durch die Macht des Stabes gestärkt wurden, um die alte Katze vom Rand des Todes zurückzuholen. Mit flinken Fingern begann sie, zerbrechliche Knochen zusammenzusetzen und zerrissene Gewebeschichten zu flicken.
So vollkommen verlor sie sich in der Vielschichtigkeit ihrer Aufgabe, daß ihr erst nach einer ganzen Weile bewußt wurde, daß Anvar neben ihr stand. Er hatte seine Hand auf den Stab gelegt und ließ beständig etwas von seiner Kraft in sie hineinströmen, so daß sie am Ende ihrer Arbeit nicht allzu erschöpft sein würde. Chiamh kniete neben dem Kopf der großen Katze und benutzte seine eigenen Zauberkräfte, um die lebenswichtige Luft in Hreezas Lungen hinein- und wieder herauszupumpen, während Aurian weiterarbeitete. Die geflügelten Arzte, Elster und Cygnus, hockten hinter der Magusch, sahen ihr verzückt vor Begeisterung über die Schulter und bestaunten die heilenden Kräfte der jungen Fremden.
Aurian beschäftigte sich zunächst nur mit den elementaren Schäden und verrichtete ihre Arbeit, so schnell sie nur konnte, um die Bedrohungen durch Kälte und Schock für ihre zerbrechliche alte Patientin möglichst gering zu halten. Nach einer Weile stand sie plötzlich auf. »Sehr schön«, sagte sie energisch, »das sollte für den Augenblick genügen, aber wir müssen sie sofort irgendwohin bringen, wo es warm ist, und zwar ohne ihre übrigen Verletzungen zu verschlimmern oder das, was ich gerade in Ordnung gebracht habe, wieder zu beschädigen.« Aurian wandte sich an den Magusch an ihrer Seite. »Anvar – ich brauche deine Hilfe. Würdest du den Stab zusammen mit mir festhalten, so wie du es in der Wüste getan hast, und mir deine Kraft leihen? Ich möchte Hreeza für einige Minuten aus der Zeit herausnehmen und den alten Apportzauber meiner Mutter benutzen, um sie sicher in unser Quartier zu befördern.«
Anvars Augen weiteten sich. »Was – gleichzeitig? Ist das nicht ein wenig schwierig?«
Aurian schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Es wird allerdings anstrengend sein – ich bin ein wenig aus der Übung, da ich meine Kräfte erst vor so kurzer Zeit wiedererlangt habe. Deshalb wäre ich dir für deine Hilfe wirklich dankbar.«
Anvar vollführte eine schwungvolle Verbeugung. »Für meine Lady – alles.«
»Jetzt macht schon!« knurrte Shia, und die beiden Magusch, die die Besorgnis der großen Katze spürten, wandten sich schnell wieder ihrer Patientin zu.
Der Zeitzauber war sehr einfach, und Aurian sandte ein kurzes Dankgebet zu dem Geist ihres alten Freundes Finbarr empor, der sie in dieser speziellen Form der Magie unterwiesen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sobald Hreeza der Sicherheit halber unbeweglich gemacht war, bereitete sich Aurian auf den Apportzauber vor. Sie umklammerte den Stab der Erde, spürte Anvars Hände warm und sicher neben den ihren und ging schließlich daran, sich für die Macht des Artefakts zu öffnen. Zutiefst konzentriert schlang sie das Gewebe der Macht um die alte Katze und hüllte Hreeza in ein Tuch aus Magie, das in dem unirdischen grünen Licht des Stabes schimmerte. Dann stellte sie sich den gewünschten Zielort vor – ihre beiden eigenen Zimmer im Turm –, nahm ihren ganzen Willen zusammen und preßte.
Mit einem Aufblitzen smaragdgrünen Leuchtens war Hreeza plötzlich verschwunden. Kühle Luft strömte mit einem Donnerschlag an die Stelle, an der vorher die Katze gelegen hatte, und die staunenden Himmelsleute prallten fluchend und mit Entsetzensschreien auf den Lippen zurück, während sie sich die Benommenheit aus ihren ungläubigen Augen rieben. Aurian sackte an Anvars Seite zusammen und fühlte sich trotz seiner Hilfe so ausgelaugt, als hätte sie Hreeza jeden einzelnen Zentimeter des Weges auf ihrem eigenen Rücken zum Turm getragen. Das war das Unangenehme bei einem Apportzauber, dachte die Magusch kläglich. Man konnte auf diese Weise Gegenstände schnell und leicht an einen anderen Ort bewegen, aber die Tragweite eines solchen Zaubers war sehr begrenzt, und er kostete genausoviel Energie wie gängigere Methoden.
Chiamh, das Windauge der Xandim, lehnte erschlafft an einem Haufen brüchiger Mauersteine. Seine Augen mit dem silbernen Glanz waren ausdruckslos und leer, und Aurian wurde klar, daß er sein besonderes Talent, den Wind zu reiten, benutzte, um zu überprüfen, ob die alte Katze ihren Bestimmungsort erreicht hatte. Noch während Aurian ihn beobachtete, schüttelte er sich plötzlich, setzte sich aufrecht hin, und das reflektierende Funkeln in seinen Augen ließ nach, bis diese schließlich wieder ihren gewohnten Bernsteinton hatten. »Sie ist sicher angekommen«, informierte er die Magusch mit ehrfürchtiger Stimme. »Beim Lichte der Göttin, Lady – welch ein Zauber! Kannst du dich selbst auch auf diese Art und Weise bewegen?«
Aurian lächelte und schüttelte den Kopf. »Kannst du dich an deinen eigenen Stiefeln hochziehen?« entgegnete sie und wandte sich dann wieder an Anvar. »Komm jetzt – laß uns von hier verschwinden und Hreeza endgültig gesund machen.« Plötzlich fiel ihr etwas anderes wieder ein, und sie sah sich stirnrunzelnd um. »Ach übrigens, was ist aus dem kleinen Mädchen geworden, das sie gefunden hat? Bei all der Aufregung haben wir ganz vergessen, uns bei ihr zu bedanken …«
»Ich würde das für den Augenblick sein lassen, wenn ich du wäre.« Anvar zeigte mit der Hand über seine Schulter, und Aurian, die nach dem erschöpfenden Apportzauber erst langsam wieder zu Verstand kam, bemerkte, daß ein Stückchen weiter weg im Schatten der Dunkelheit ein gewisser Aufruhr herrschte. Eine schimpfende Stimme und eine Folge klatschender Ohrfeigen, die ein anschwellendes Wimmern nach sich zogen, sagten der Magusch, daß die Erleichterung der Mutter des geflügelten Kindes in ein Stadium des Zornes übergegangen war. Aurian zuckte mitleidig zusammen. »Armes Ding«, murmelte sie.
»Warte, bis du erst an der Reihe bist«, warf Shia hinterhältig ein. »All diese Freuden der Mutterschaft stehen dir ja noch bevor.«
Aurian hob ihren Blick gen Himmel. »Mögen die Götter mir beistehen«, murmelte sie.
Als Aurian auf Cygnus zuging und nach ihren geflügelten Trägern rief, die sie zu ihrem Turm zurückbringen sollten, wandte sich der junge Arztpriester hastig von ihr ab, denn er wollte der Magusch auf keinen Fall sein Gesicht zeigen. Er befürchtete, sie könne seine geheimsten Gedanken erraten. Inmitten eines Sturms aus Bitterkeit und Neid hatte er ihre Heilkräfte in Aktion gesehen und in seinem Herzen gewußt, daß es falsch von ihm war, eine so wunderbare Gabe mit Widerwillen zu betrachten, aber er konnte nicht anders. Warum waren die Götter nur so ungerecht, überlegte der weißgeflügelte Arzt, während seine Gedanken zu den Entbehrungen des furchtbaren, unnatürlichen Winters zurückkehrten und zu seiner eigenen Unfähigkeit, seinem leidenden Volk zu helfen. Warum sollten diese flügellosen Ungeheuer über solche Kräfte verfügen, während seine eigene Rasse, die früher einmal ebenfalls zu den Magusch gezählt hatte, unfähig und hilflos danebenstehen mußte?