Выбрать главу

«Während der Trauerfeier war ich beinahe zu müde, um traurig zu sein«, sagt er.»Es waren viele Leute da, auch bekannte Gesichter, aber ich hatte keine Lust auf Gesellschaft. Hab nur ein bisschen mit der Tochter geredet über Stans Besuch damals in Deutschland. Offenbar hat er danach alle Nachforschungen zu Joeys Tod eingestellt. Hat gesagt ›Ich hatte ein gutes Leben‹ und nicht mehr von früher gesprochen. Claire wollte wissen, ob ich eine Erklärung dafür habe. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Damals in der Eifel hat er gesagt, er habe sein Leben lang geglaubt, sich nicht verzeihen zu können, dass Joey an seiner Stelle in den Krieg ziehen musste. In Wirklichkeit sei es der Neid auf den jüngeren Bruder gewesen. Scheint ihm erst im Hürtgenwald klar geworden zu sein, dass er sich den nicht hatte verzeihen können. Vielleicht konnte er es danach doch, keine Ahnung. Der Tochter hab ich gesagt, ich wüsste es nicht. Ich dachte, ich habe kein Recht, für ihn zu sprechen. Stattdessen bin ich zur Uni gefahren und durch die Gegend gelaufen. Auf den alten Wegen. «Von der West Bank zum Campus und von dort zu Stans Haus. Das Frühjahr hatte gerade begonnen, und die Luft roch noch nach Schnee, obwohl schon die Krokusse blühten. Hartmut ging die University Avenue entlang, das Varsity Theater gab es immer noch, war aber kein Kino mehr, sondern ein Musikclub. Weiter nach Westen, über die große Brücke. Der Weg kam ihm länger vor als in der Erinnerung.»Das Haus beherbergt inzwischen ein Bed & Breakfast, aber äußerlich hatte sich wenig verändert. Immer noch taubenblaue Schindeln und die drei Stufen zur vorderen Veranda. Ich stand davor, und dann hab ich einfach geklingelt. Die Besitzerin war nett und fand es interessant, dass ich die Hurwitzens persönlich gekannt hatte. Sie hatte das Haus von einem Makler gekauft, mitsamt einem großen Teil der Einrichtung. Das Erdgeschoss war fast wie damals, das Klavier, die alten Möbel, die vielen kleinen Dinge, für die Marsha eine Schwäche hatte. Ein Kaffeeservice mit der Prägung ›Württemberg Germany‹. Es war komisch, das alles wieder vor Augen zu haben. Hab ich dir nie davon erzählt?«

«Wovon Hartmut? Du kommst ja nicht zum Punkt. Ist es nicht sehr teuer, so lange von Portugal zu telefonieren? Du rufst übers Handy an, oder?«

«Egal. Lass mich erzählen. Wir saßen an dem Esszimmertisch, an dem ich früher meine Muffins gegessen habe. Ich fand’s schade, keine Fotos mitgebracht zu haben. Dass Stan am selben Tag beigesetzt worden war, wusste die Frau nicht. Er hatte schon seit Marshas Tod bei der jüngsten Tochter gewohnt.«

Der Sänger hat sich wieder unter die Zuhörer gemischt, um seine Späße zu treiben und CDs zu verkaufen. Hartmut hält sich das Telefon ans andere Ohr. Hier sitzt er, an der Maurenmauer von Lissabon, und denkt an das Haus in der University Avenue. Das übrigens nicht viktorianisch sei, wie seine Gesprächspartnerin ihn bei Gelegenheit korrigierte, sondern Queen Anne.

«Ich hatte ein Hotel gebucht«, sagt er,»für die zwei Nächte, die ich in der Stadt bleiben wollte. Aber nach einer halben Stunde hab ich spontan beschlossen, in dem Bed & Breakfast zu übernachten. Eins von den Zimmern im ersten Stock war frei.«

«Okay. «Es scheint Ruth Mühe zu kosten, ihre Ungeduld zu zügeln.»Warum?«

«Ich wollte es. Das war jahrelang mein zweites Zuhause gewesen, mehr noch als das Zimmer drüben bei Walter. Keine Ahnung warum, ich wollte es einfach.«

«Und dann?«

«Oben hatte sich vieles verändert. Die beiden Arbeitszimmer waren jetzt Gästezimmer. Davon gab es noch ein weiteres, ich weiß nicht mehr, wozu das früher gedient hatte. Die Einrichtung war anders, es standen keine Bücher in den Regalen, aber es hat gerochen wie damals. Für mich war’s derselbe Ort. Ich hab die Tür geschlossen und mich aufs Bett gesetzt — in dem Raum, den er früher seine Zelle genannt hat. This is where I pay for it all, meinte er immer. Da saß ich und konnte plötzlich nicht mehr aufhören zu weinen. Es ging nicht. Nie vorher oder nachher in meinem Leben hab ich so geheult. Ich musste mir das Kissen ins Gesicht drücken, damit mich niemand hört. Ich wusste von früher, wie dünn die Wände sind.«

«Wo waren deine Sachen?«Eine Frage, wie sie in diesem Moment nur Ruth stellen kann.

«Noch im anderen Hotel. Ich hab sie später geholt.«

Wieder entsteht eine kurze Pause, in der Hartmut darauf wartet, dass ein Echo der damaligen Überwältigung ihn einholt. Das geschieht nicht. Er fühlt sich gut, so wie vor drei Jahren, nachdem das Schluchzen endlich abgeklungen war und er sich im Zimmer umsehen konnte. Das Bett stand vor dem Fenster, wo früher der Schreibtisch gestanden hatte. Eine andere Tapete, ein neuer Teppich und trotzdem, manche Orte bleiben auf ähnliche Weise sie selbst wie Menschen.

«Verstehe«, sagt Ruth.

«Ich dachte, es ist, weil ich auf der Trauerfeier wie betäubt war von Müdigkeit. Dass meine Gefühle mich erst später eingeholt haben. Im Nachhinein ist schwer zu entscheiden, ob…«Er schreckt auf, weil er einen Schlag auf die Schulter bekommt; nicht fest, aber so unerwartet, dass sein Knie gegen den Tisch stößt und Bier aus dem Becher schwappt. Als er sich umdreht, blickt er in das Gesicht des Sängers. Er hält Hartmut die CD vor die Nase und macht eine Geste, als wollte er sagen: Kauf das hier, mein Freund, und du bist alle Sorgen los.

«Was ist da los bei dir?«, fragt Ruth.

«Alles okay. Es ist nur Musik. «Er signalisiert dem Sänger, dass er beschäftigt sei, und der trommelt ihm noch ein paar Mal mit dem Holzinstrument auf die Schultern, bevor er zum nächsten Tisch springt. Die Aufmerksamkeit der anderen Gäste folgt ihm.»Ich muss bald zurück, Ruth. Wir gehen heute Abend mit João essen.«

«Jetzt hast du gar nicht erzählt, ob du eine Entscheidung getroffen hast.«

«Ich hab entschieden, dass ich es mit Maria besprechen muss.«

«Als du hier warst, hast du gesagt, du musst erst einmal für dich herausfinden, was du willst.«

«Das hat nicht geklappt. Ich hab’s versucht, aber es hat zu nichts geführt.«

«Verstehe«, sagt sie noch einmal.»Ich muss auch los.«

«Ich melde mich, wenn es was Neues gibt.«

«Okay. Pass auf dich auf und grüß alle. «Seine Schwester klingt nachdenklich, als frage sie sich, was er ihr mit seiner Erzählung sagen wollte. Was er in diesem Moment selbst nicht weiß. Es ist genug, denkt er. Er hat sein Bier ausgetrunken, die Hitze lässt nach, und der Betrieb an der Maurenmauer nimmt zu. Eine Menschentraube umringt die fünf Musiker. Immer noch der schönste Platz in Lissabon. Solange die Sonne scheint und seine Füße ihn tragen, wird er hierherkommen. Das Stück endet, Applaus brandet auf, und ohne ein letztes Wort schaltet Hartmut das Telefon einfach aus.

~ ~ ~

14 Als er die südlichen Außenbezirke von Porto erreicht, ist die Sonne bereits untergegangen. Mehrspurig führt die Autobahn über den Douro. Bei seinem letzten Besuch wurde am neuen Estádio do Dragão noch gebaut, jetzt passiert Hartmut das fertige Bauwerk und folgt der Beschilderung zum Flughafen. Das Navigationsgerät hat er ausgeschaltet. Im großen Bogen fließt der Verkehr um die Stadt herum nach Matosinhos, und über den Dächern erscheint die erste tief fliegende Maschine. Beide Hände aufs Lenkrad gelegt, zieht Hartmut die Schultern zurück und bewegt den Kopf hin und her. Seine Verspannung steigert sich zu kribbelnder Taubheit und reicht die Arme hinunter bis zu den Ellbogen. Den Feierabendverkehr hat er zum Glück vermieden. Noch ein paar Kurven, der letzte Hinweis ›aeroporto‹, dann rollt er an Lagerhallen vorbei dem flachen Flughafengebäude entgegen. Dahinter ist das Land zu Ende, und der Horizont glüht rot und gelb. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt kurz nach halb neun.

In der Tiefgarage zieht er ein Ticket und findet einen freien Parkplatz. Am Mittag hat er außer dem Kulturbeutel ein zweites Hemd auf die Rückbank gelegt, nun greift er nach den Sachen, nimmt sein Telefon vom Beifahrersitz und schaut aufs Display. Immer noch nichts von Philippa. Das Gesicht im Rückspiegel kommt ihm gerötet vor. Der Bartwuchs lässt es voller erscheinen und verleiht ihm Züge eines anderen Typs, eines Zigarillorauchers, der sich für moderne Kunst interessiert. Heute Morgen in Joãos Badezimmer hat er den Bart mit der Nagelschere gestutzt und gedacht, dass eine Brille mit dunklem Rahmen besser passen würde als das randlose Modell, das er schon zu lange trägt. Die Hoffnung, dass Maria sein neues Aussehen mögen werde, begleitet ihn seit der Abfahrt aus Lissabon. Als wäre das die Frage, an der sich die Zukunft entscheidet.