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Der Barkeeper bringt Marias Getränk und fragt, ob sie essen möchten. Hartmut bestellt Chili con carne, seine Frau den üblichen Salat. Als wollte die Stadt einen eigenen Kommentar zu dem Vorfall abgeben, erklingen draußen wütende Stimmen, und sofort drehen die Gäste unter den Sonnenschirmen die Köpfe. Ein Schimpfwort folgt auf einen vulgären Fluch, jemand ist blind und ein anderer bescheuert, dann müssen die Streithähne weiter, und die Anspannung löst sich auf. Nichts passiert.

«Jetzt fühlst du dich schlecht?«, fragt Maria.

«Stolz bin ich nicht. Sie engagiert sich für einen guten Zweck, und ich — hab ihre Bemerkung in den falschen Hals bekommen. «Den Wortlaut seines Ausbruchs hat er leicht zensiert und ›Arsch‹ durch ›sonst wohin‹ ersetzt. So klingt es eher nach einer Lappalie als nach abermaligem Kontrollverlust.

Maria wischt das Thema wie eine Rauchwolke beiseite und lächelt.

«Würde ein Witz unserer Tochter dich aufmuntern? Hat sie mir heute Morgen geschickt. «Das war es, was er beim Reinkommen auf ihrem Gesicht gesehen hat, die Erinnerung an einen Witz von Philippa, den sie ihm erzählen will.

«Ist er lustig?«

«Gut bis sehr gut.«

«Okay. Lass hören.«

Seine Frau ist in der Familie als mäßige Witze-Erzählerin bekannt. Meistens ohne das richtige Timing, zu schnell mit der Pointe, als wollte sie alles möglichst rasch hinter sich bringen. Ihre Begeisterung fürs Theater ist von jeher frei gewesen von dem Wunsch, selbst auf der Bühne zu stehen. Stattdessen spielt sie in Merlingers Ensemble das Mädchen für alles, pflegt die Kontakte zum Feuilleton, tröstet sensible Schauspieler und fungiert notfalls als Blitzableiter für die Launen des großen Maestro.

«Ich weiß, dass du nicht lachen wirst«, sagt sie,»aber versuch zu lächeln, okay? Sie hat mir eine Mail geschrieben, ohne Hallo, ohne Tschüss, nur den Witz. Mit der entsprechenden Betreffzeile: Ein Witz.«

«Ich bin ganz Ohr. «Die Ankündigung klingt nach Philippas trockenem Humor, den sie von keinem ihrer Elternteile geerbt hat. Seit drei Semestern studiert seine Tochter in Hamburg und verbringt diesen Sommer damit, in Santiago de Compostela Spanisch zu lernen. Ihre letzte Mail an ihn ist vor drei Wochen eingetroffen und bestand aus den üblichen Versicherungen: Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen, bis bald.

«Also. «Die Spur von Verlegenheit in ihrem Blick steht seiner Frau ausgesprochen gut.»Ein katholischer Priester, ein protestantischer Pfarrer und ein jüdischer Rabbi diskutieren die Frage, wann menschliches Leben beginnt. Der katholische Priester zögert keine Sekunde und sagt: Mit der Zeugung. Menschliches Leben beginnt mit der Zeugung. Der Protestant überlegt einen Augenblick, dann kommt er zu dem Schluss: Nein, menschliches Leben beginnt erst mit der Geburt. Schließlich schauen beide den Rabbi an, der ziemlich lange überlegt und den Kopf hin und her bewegt, bevor er antwortet…«Sie zwingt sich zu einer kurzen Spannungspause, muss ein Lachen unterdrücken und schüttelt den Kopf über sich selbst.»Menschliches Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind.«

Lachen, denkt er und produziert ein halbwegs amüsiertes Schnauben durch die Nase. Über den Tisch hinweg will er nach Marias Hand greifen, aber seine Frau winkt ab.»Ich wusste es.«

«Es ist ein guter Witz. Und du hast ihn sehr gut erzählt. «Bitte sehr, er ist überhaupt nicht so negativ, wie Maria oft behauptet. Der Witz gefällt ihm wirklich. Sehr pfiffig. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, haha! Richtig super wird es natürlich erst, wenn die Frau auch noch geht. Da sitzt man abends im Wohnzimmer und kann sich kaum halten vor guter Laune. Zum Glück gibt es Telefon, E-Mail, Skype, die Technik fürs virtuelle Familienleben. Immerhin hat Philippa in Aussicht gestellt, ihn auf dem Rückweg nach Hamburg zu besuchen, und Maria will nach dem Kopenhagener Gastspiel für eine Weile in Bonn bleiben. Wer weiß, vielleicht wird sich ihm die Gelegenheit bieten, bei einem gemeinsamen Abendessen an sein Glas zu klopfen und zu sagen: Übrigens habe ich eine Entscheidung getroffen, die euch vielleicht überraschen wird. Für einen kurzen Moment glaubt er fest an die Möglichkeit, gegen alle Vernunft und Wahrscheinlichkeit. Peter Karows Angebot gilt, die Option besteht. Jetzt muss er sich seiner Skepsis stellen wie einem trickreichen Gegner.

«Was ist so lustig?«, fragt Maria.»Außer meinem deplatzierten Witz.«

«Ich hab an was anderes gedacht, aber vielleicht ist sogar was dran an der Pointe. Nicht, dass es jetzt erst anfängt. Es könnte bloß sein, dass menschliches Leben nicht nur ein Mal beginnt. Weil es aus Phasen besteht, die alle ihren eigenen Beginn haben. Immer wieder. «Demnach auch ein Ende, aber das denkt er nur.

«Aus deinem Mund ein bemerkenswerter Satz.«

«Man ist nie zu alt, um sich zu ändern, oder? Ich meine echte, grundsätzliche Veränderung.«

«Nein. Theoretisch nicht.«

«Das war gemein!«Er spricht es aus, als wäre es ein Spaß. Vielleicht ist es einer. Seit dem Streit vor einem Jahr weiß er manchmal nicht, was sie beide meinen mit dem, was sie sagen. Ob sie ehrlich miteinander sind und inwiefern sie mehr von ihren Zusammenkünften erwarten, als dass sie gut gehen. Was erstaunlich häufig geschieht. Er müsste lügen, wollte er behaupten, dass die regelmäßigen Fahrten nach Berlin keine Bereicherung darstellten, und trotzdem: Streitvermeidung als oberstes Prinzip einer Ehe garantiert nicht Harmonie, sondern Stagnation. Wahrscheinlich muss man große Angst vor etwas anderem haben, um darin das kleinere Übel zu sehen.

Noch einmal greift Hartmut nach ihrer Hand und küsst sie. Weiß nicht, ob er sich freuen oder was er sonst empfinden soll. Würde ein neutraler Beobachter am Nebentisch ihnen ansehen, auf welch driftendem Grund sie stehen? Ihn haben die vergangenen zwei Jahre gelehrt, dass Liebe ein schwaches Argument sein kann. Schwächer als einsame Nächte, die Frustration über ihr abgeschaltetes Handy oder das merkwürdige Gefühl beim Betreten von Marias Wohnung. Dieses demonstrative Provisorium in der Schulzestraße, halb leere Regale und kahle Wände, so als handelte es sich bei einem Teakholztisch und einem Viertausend-Euro-Sofa um Dinge, die er ihr früher aufgedrängt hatte. Dabei hat sie sich einmal in einen alten Regency-Sekretär verguckt und ein auf Antiquitäten spezialisiertes Umzugsunternehmen aufgetrieben, das den Schatz von Portugal nach Bonn schaffte. Billig war das nicht. Jetzt steht er als Schminktisch in einem Schlafzimmer, in dem Maria nur noch besuchsweise übernachtet und sich folglich selten schminkt. Als sie an jenem Abend am Planufer zu ihnen stieß und sich von Peters Idee unterrichten ließ, lautete ihr erster Kommentar:»Wusste ich doch, dass man euch zwei gut alleine lassen kann. «Die Gegengründe, die Hartmut ihr später aufgezählt hat, überzeugten sie nicht. Sein beruflicher Aufstieg habe stets vollen Einsatz verlangt, meinte sie, weshalb er jetzt nicht an eine Chance glaube, die ihm wie auf dem Silbertablett präsentiert werde. Das war gut beobachtet und wahrscheinlich zutreffend, aber was genau hat sie gemeint? Von sich aus ist sie nicht mehr auf das Thema zurückgekommen. Er auch nicht.

«Sehe ich dich heute Abend noch?«, fragt Maria. Sie haben ihr Essen bekommen und die Unterhaltung eine Weile ruhen lassen.

«Ich hab Ruth gesagt, es wird nicht zu spät. Zwischen drei und vier will ich los.«

«Wann bist du wieder in Bonn?«

«Spätestens am Montag. Eher Sonntagabend.«

«Also sehen wir uns erst nach Kopenhagen.«

Er nickt, Maria sieht auf die Uhr. Eine Viertelstunde später stehen sie draußen auf dem Platz, und Hartmut versucht, seine nächsten Schritte zu planen. Als Erstes wird er kommende Woche die Rechtsabteilung anrufen und sich unter Verwendung vieler Konjunktive erkundigen, was ein Professor beachten müsste, wenn er sich mit dem Gedanken beruflicher Umorientierung trüge und daher daran dächte, seine Anstellung an der Universität aufzugeben. Falls das überhaupt geht als Beamter.