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«Hallo?«, sagt er, noch bevor er sich aufgestützt und den Hörer ans Ohr gehalten hat. Dann» Hello?«und schließlich» Hola?«, während draußen die energische Stimme eines Reiseführers Erklärungen vorträgt. Wo liegt seine Brille?

Aus der Leitung kommt ein knapper Wortwechsel, dann zitiert Philippa einen Spruch aus ihrer Kindheit, der alles noch komplizierter macht:»Sie müssen aufstehen, Fürst, wir haben heute Großes vor.«

«Guten Morgen. «Im Liegen zieht er das Telefon übers Bett. Zu Tagesbeginn will nichts einen Sinn ergeben, solange das Milchglas seiner Kurzsichtigkeit über der Welt liegt. Er tastet nach seiner Brille und findet sie, endlich nimmt das Zimmer Gestalt an.»Wie spät ist es, und was haben wir heute Großes vor?«

«Halb zehn. Als Erstes wird gefrühstückt.«

«Okay. Von wo rufst du an?«

«Von der Rezeption. Wir hatten halb zehn vereinbart, falls du dich erinnerst. Offenbar hast du gut geschlafen.«

«Ich glaube schon. «Sein Traum steht ihm vor Augen, und er ist nicht sicher, welcher Welt er den Vorzug gäbe, könnte er zwischen ihnen wählen. Der angebrochene Tag übernimmt das schwierige Erbe seines Vorgängers und wie um das zu unterstreichen, fügt Philippa hinzu:»Wenn’s dir nichts ausmacht, frühstücken wir zu dritt.«

«Okay, klar«, sagt er, so schnell er kann. Automatisch hat er sich im Bett aufgesetzt. Die Unordnung in seinem Kopf kontrastiert mit der Aufgeräumtheit des Zimmers, den ordentlich neben der Tür platzierten Schuhen und seinen über die Stuhllehne gehängten Kleidern.»Gib mir eine Viertelstunde.«

«Wir sitzen im Frühstückssaal. Hast du Continental Breakfast oder das Büfett gebucht?«

«Hab ich was?«

«Hallo!«, sagt sie lachend.»Schläfst du noch, oder bist du nervös?«

«Nervös«, antwortet er, bevor er sich was anderes überlegen konnte.

«Ich auch. Wenn wir uns beide Mühe geben, wird alles gut. Gabriela ist sowieso ein Engel.«

Ein Engel. Das sagt er gelegentlich über Maria, allerdings nicht in ihrem Beisein. An der Art, wie Philippa es gerade ausgesprochen hat, kann er hören, dass besagte Gabriela neben ihr steht. Von der war gestern lange Zeit keine Rede, bis Philippa gefragt hat, ob er gar nichts wissen wolle über ihre Freundin. Sie studieren beide dasselbe Fach, Ernährungswissenschaft, aber Gabriela schreibt bereits an ihrer Diplomarbeit. Kommt aus Galicien und versteht folglich Portugiesisch. Einzelkind wie Philippa. Soweit die Fakten.

«Ich glaube, es war Büfett«, sagt er nach einer Pause.»Bestellt einfach, was ihr wollt. Ich beeile mich. «Vor dem Auflegen glaubt er die Stimme der Freundin zu hören, wie sie ›Okay‹ oder etwas dergleichen sagt. Draußen stoßen Möwen spitze Schreie aus. Über die weißen Vögel hat er sich bereits bei der Ankunft gewundert, schließlich liegt Santiago nicht an der Küste. Fast hundert Kilometer sind es bis zum Cabo Finisterre, wo den Kelten zufolge die Welt zu Ende war. Hat Philippa gestern erzählt. Wer dort anlangte, verbrannte am Abend einen Gegenstand, der das eigene Ich repräsentiert, und badete am nächsten Morgen im Meer, als Zeichen der Erneuerung. Wäre wahrscheinlich das Richtige für ihn. Ein Mal die keltische Runderneuerung.

Er stellt sich in die offene Luke des Dachfensters und schaut hinaus. Der Blick reicht bis zu den Hügeln hinter der Stadt, von deren höchster Kuppe zwei riesige Fernsehtürme aufragen. Seine Erinnerung an den Traum ist deutlicher als die an den Tag von Florians Hochzeit, aber dass sie seitdem nicht noch einmal zusammen geraucht haben, spricht dafür, dass er eine geschönte Version geträumt hat. Haben sie sich wirklich geküsst? Unten auf der Gasse sieht Hartmut eine Touristengruppe und hört die Stimme der Englisch sprechenden Führerin.

Statt sich zu beeilen wie versprochen, atmet er die kühle Luft des Morgens und lauscht. Eine heitere Verwirrung entsteht, weil die Frau ›truth‹ wie ›truce‹ ausspricht. Gerne würde er Kaffee trinken und den Morgen am Fenster verbummeln. Den florentinischen Charme dieser roten Dächer genießen. Kaum fünf Meter neben ihm gehört die Spitze von San Miguel dem Moos und den Tauben. Schweren Herzens reißt Hartmut sich los und geht ins Bad.

Als er gestern im Café von der Toilette zurückkam, hat er kein weiteres Porzellan zerschlagen, sondern seiner Tochter erklärt, dass er sich kurz schwach gefühlt habe nach der langen Fahrt, weshalb Philippa seine erste Reaktion nicht überbewerten solle. Er sei froh, endlich in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Das mag ein wenig steif geklungen haben, aber Philippa hat es akzeptiert; wahrscheinlich war ihr seine Förmlichkeit lieber als die gekünstelte Saloppheit vorher. Später sind sie essen gegangen, und Philippa hat wiederholt gesagt, es sei dumm gewesen, so lange gewartet zu haben. So weit ist alles in Ordnung. Jetzt muss er runtergehen und Gabriela kennenlernen, dann ein paar Mal drüber schlafen und über seinen eigenen Schatten springen — Variationen einer Disziplin, in der er seit Jahren trainiert und eine gewisse Routine ausgebildet hat. Er ist weder geschockt noch entsetzt. Eigentlich ist er gar nichts Bestimmtes, nur überrascht. Maria soll ziemlich verkrampft reagiert haben, also auch nicht besser als er. Wahrscheinlich besteht die Möglichkeit, rückwirkend eine bessere Zensur zu bekommen, wenn er das heutige Frühstück nicht verbockt. In mündlichen Prüfungen wischt er das nervöse Anfangsstottern seiner Studenten gerne mit einem Lächeln beiseite und sagt, ab jetzt, okay?

Okay, erwidert sein Spiegelbild. Weil er sich gestern Morgen nicht rasiert hat, liegt ein dunkler Bartschatten auf seinen Wangen, dessen Beseitigung er auf später verschiebt. Die ausbedungene Viertelstunde ist um.

Im Fahrstuhl fährt Hartmut nach unten und betritt den Frühstückssaal. Leer, bis auf eine vierköpfige Familie und ein jüngeres Pärchen. Schon will er sich in die andere Richtung wenden, zurück in den Korridor, als er die offene Tür am verglasten Ende des Saals bemerkt. Ein schmaler Steg führt über den Innenhof auf eine reich begrünte Terrasse, etwas höher gelegen und von hellen Mauern eingefasst. Von dort winkt Philippa ihm zu, über die Schultern von jemand anderem hinweg und mit beiden Händen, als stünde sie am Heck eines ablegenden Schiffes. Er winkt zurück und geht hinaus.

Angenehm frische Morgenluft empfängt ihn. Erst als die Frau im weißen T-Shirt sich erhebt, stellt Hartmut fest, dass er keine Vorstellung von ihrem Äußeren hatte.

«Bom día«, sagt er in ein freundliches und gleichzeitig ernst blickendes Gesicht. Umrahmt von einer Kurzhaarfrisur, mit der sie sich morgens nicht lange aufzuhalten scheint. Dunkler Teint, schöne braune Augen und ein schmaler, auch beim Lächeln kaum geschwungener Mund. Es muss der feste Händedruck sein, der Hartmut glauben lässt, einer entschlusskräftigen und energischen Person gegenüberzustehen. Auf Ende zwanzig schätzt er sie, jedenfalls älter als Philippa.

«Bom día«, sagt Gabriela und fügt etwas hinzu, das Hartmut nicht sofort versteht. Vier große Schirme und ein Ahornbaum spenden Schatten, obwohl die Sonne noch nicht hoch steht. Aus den Augenwinkeln sieht er kleine Orangenbäume, deren Früchte wie Tennisbälle im dünnen Geäst hängen, und hört das leise Plätschern von Wasser.

«Wieso stehen wir?«, fragt Philippa auf Deutsch. Sie trägt dieselben Klamotten wie gestern, und es dauert eine Weile, bevor Hartmut bemerkt, was sich verändert hat: Der Nasenring fehlt. Proper sieht seine Tochter aus, voller Elan und, tja, eigentlich gar nicht lesbisch.

Kaum haben sie Platz genommen, kommt ein junger Kellner, um ihre Getränkewünsche entgegenzunehmen. Hartmut spürt Philippas Blick auf sich, ein stummes Forschen, das es ihm schwer macht, eine nichtssagende Miene zu wahren. Einer der letzten Romane, die er gelesen hat, handelte von einem älteren Mann, der die Freundin seiner lesbischen Tochter ziemlich scharf fand und dadurch in eine Bredouille geriet, von der Hartmut sich nicht bedroht fühlt. Alle entscheiden sich für Kaffee und Orangensaft. Möwen schweben so tief über die Dächer, dass ihre aufgerissenen Schnäbel zu erkennen sind, wenn sie schreien.