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«Ja, wir sind eine Parodie unserer selbst.«

«Tu’s nicht, Hartmut. Ich bitte dich. Sie ist dir ähnlicher, als du glaubst. Wenn du sie in die Ecke drängst, wird sie wild. Alles andere als vollständige Akzeptanz ist ihr zu wenig.«

Philippa scheint zu ahnen, dass es um sie geht und blickt erneut in seine Richtung. Dann stehen sie und Gabriela auf, die leeren Teller in den Händen.

«Du hast gesagt zu dritt«, sagt Maria.»Mit Gabriela?«

«Du kennst sie?«

«Die beiden waren einmal zusammen in Berlin. Sie ist nett, oder?«

«Keine Ahnung. Wahrscheinlich. «Hartmut schaut den beiden hinterher und zuckt mit den Schultern, als ob Maria ihn sehen könnte.»Übrigens habe ich letzte Nacht davon geträumt, wie wir zusammen den Joint geraucht haben. Wieso haben wir das nur ein Mal gemacht?«

«Ich hatte nicht den Eindruck, dass du es wiederholen willst.«

«Will ich aber. Nur den Joint, nicht das davor.«

«Dann tun wir’s. Wie geht’s jetzt weiter? Bleibst du in Santiago? Was wird aus unserer Reise?«

«Philippa und ich fahren morgen nach Lissabon. Dann wahrscheinlich weiter nach Rapa. Entweder geht es deinem Vater besser und wir machen Urlaub, oder es kann nicht schaden, wenn jemand da ist. Am besten du kommst nach. Wir bleiben ein paar Tage bei deinen Eltern und fahren durch Spanien und Frankreich zurück. Wie damals. Wie lange musst du in Kopenhagen bleiben?«

«Noch zwei Tage, wenn alles glattgeht. Bis jetzt ist nichts glattgegangen.«

«Wie wurde die erste Aufführung aufgenommen?«

«Höflicher Applaus«, sagt sie.»Es ist schrecklich hier, ich kann nicht mehr.«

«Mach’s wie ich. Hau einfach ab.«

«Du weißt, dass das nicht geht. Es gibt ein Ensemble.«

«Hier auch, und was für eins. Wir kennen nicht mal das Stück, das wir spielen. «Damit bringt er Maria zum ersten Mal zum Lachen. Philippa und Gabriela tragen die nächste Portion Vitamine auf die Terrasse.»Such nach einem Flug und melde dich. Wenn es irgendwo auf der iberischen Halbinsel ist, hole ich dich ab.«

«Halt mich auf dem Laufenden über meinen Vater. Ich hab mein Handy in der Tasche. Und sei vorsichtig, was du zu Philippa sagst. Sie verlangt nichts, was ihr nicht zusteht, aber das andere will sie ohne Abstriche. «Marias Tonfall lässt erkennen, dass Verpflichtungen sie rufen.

«Sehr verliebt wirken sie nicht auf mich«, sagt er.»Philippa ist die flippige kleine und Gabriela die vernünftige große Schwester. Gesunde Ernährung wird großgeschrieben. Auf mich wirkt es ein bisschen langweilig. «Der vielleicht nicht langweilige Teil liegt hinter einer roten Linie, von der er seine Gedanken fernzuhalten versucht.

«Ich hab dich gewarnt, mehr kann ich nicht tun. Du bist hinterher derjenige, der am meisten leidet.«

Damit beenden sie das Gespräch, aber statt sein Telefon einzustecken und zum Tisch zurückzukehren, bleibt Hartmut auf der Mauer sitzen. Behält das Handy am Ohr und nickt vor sich hin. In elegantem Segelflug ziehen Möwen über die Terrasse. Irgendwann sind Maria und er aufgestanden und schweigend zurück zum Auto gegangen. Gerade noch rechtzeitig haben sie es zur Kirche geschafft, die er zum ersten Mal ohne Weihnachtsdekoration sah. Familie, Freunde, andächtig lächelnde Koreaner füllten die Bänke. Eine wahnsinnig laute Orgel spielte. Ruth tupfte sich die Augen, und er saß in der zweiten Reihe zwischen Maria und Philippa. Zwischen Rausch und Klarheit, Hoffnung und Verzweiflung. Aufstehen, hinsetzen, singen und beten. An guten wie an schlechten Tagen. Bis dass der Tod euch scheidet. Das volle Programm. Ohne den Joint hätte er’s nicht ausgehalten.

«Und trotzdem«, flüstert er in sein totes Telefon.»Am Ende war’s ein guter Tag.«

1998

Die Vergangenheit erreicht ihn in Form eines länglichen Briefumschlags. Air Mail steht neben der Marke, die das Konterfei eines jungen Mannes mit Lederhelm und Fliegerbrille zeigt. Optimistisch dreinblickend, obwohl er den Lebensdaten zufolge nur achtunddreißig Jahre alt geworden ist. Auf der Rückseite die bekannte Adresse in der University Avenue, in einer eckig gewordenen, wie mit großem Kraftaufwand ins Papier gedrückten Version von Hurwitz’ Handschrift. Der zweite Brief kommt aus Lissabon und scheint eine gefaltete Karte zu beinhalten. Den Werbekatalog eines Weinversands lässt Hartmut ungeöffnet in die Altpapiertonne fallen, danach steht er unschlüssig vor dem Briefkasten, hört durchs gekippte Küchenfenster die Espressomaschine fauchen und dreht die beiden Kuverts in der Hand. Es ist ein Freitagmorgen spät im September. In der Robert-Koch-Straße werden die letzten Parklücken in Kliniknähe geschlossen, und vor Hartmuts innerem Auge erscheint das taubenblaue Haus, das er seit zwanzig Jahren nicht betreten hat. Beinahe nicht vorstellbar ohne den Duft von Muffins und Kerzenwachs. Soll er noch mal reingehen, den einen Brief lesen und den anderen Maria geben? Philippa ist bereits zur Schule aufgebrochen, und ihn erwartet an der Uni nichts außer Frau Hedwigs fragendem Blick.

Dreißig Minuten später bittet er seine Sekretärin um eine Tasse Kaffee und schließt die Tür hinter sich. Autoschlüssel und Portemonnaie legt er auf die Fensterbank. Das Jackett wandert auf den Kleiderhaken neben der Tür. Obwohl er sich die gesamte Woche freigenommen hat, ist er seit Dienstag jeden Morgen im Büro erschienen. Für Außenstehende mag es nach Pflichtbewusstsein oder einer verdächtigen Härte gegen sich selbst aussehen, aber die Wahrheit lautet: Zurzeit fühlt er sich in der stillen Gesellschaft seiner Bücher am wohlsten. Sich und seinen Gedanken überlassen.

Er zieht den Brief aus der Tasche und nimmt Platz. Gleich im ersten Satz entschuldigt sich Hurwitz dafür, dass er nicht länger mit der Hand schreibe. Nach einigen gesundheitlichen Rückschlägen sei seine Schrift kaum noch zu entziffern und er fühle sich nachträglich darin bestätigt, niemals geglaubt zu haben, dass das Alter eine Zeit von Beschaulichkeit und Seelenfrieden sei. Man habe nicht bloß die Kämpfe und Nöte hinter sich, sondern» well, pretty much everything«. Eine Sache allerdings stehe ihm noch bevor, und dies bringe ihn zum Anlass seines Schreibens. Die typisch Hurwitz’sche Art, zur Sache zu kommen. Nachdem Hartmut die drei Seiten gelesen hat, schnürt er seine Schuhe auf, dreht den Stuhl zum Fenster und sieht draußen die ersten Blätter fallen. Mit Verzögerung wird ihm bewusst, dass er befürchtet hat, von Marshas Tod zu erfahren.

Als Frau Hedwig den Kaffee bringt, dreht er sich um und schiebt die drei Briefbögen beiseite. Sieht seiner Sekretärin entgegen, als wollte er sagen: Sehen Sie, ich tue gar nichts. Ich bin bloß da. Seit einer Woche ist es, als wäre er auf der Autobahn auf die rechte Spur gewechselt und bummelte zwischen Lastern und Bussen dahin, ohne sich um den Zeitverlust zu scheren. Die wachsende Zahl nicht korrigierter Seminararbeiten und unbeantworteter E-Mails in seinem Posteingang amüsiert ihn lediglich.

«Herr Breugmann war schon hier«, verkündet sie beim Abstellen der Tasse.»Wollte sich nach Ihnen erkundigen.«

«Sich nach mir erkundigen?«

«So hat er’s ausgedrückt. Er sei im Haus und stehe zur Verfügung. «Die Benutzung des Milchkännchens überlässt sie ihm. Lauter eingespielte Rituale, das beruhigende Alles-wie-immer des täglichen Lebens. Dazu der Veilchenduft von Frau Hedwigs Parfüm, stets ein wenig zu stark, genau wie der Kaffee.

«Nämlich zu welcher Verfügung?«

«Das hat er nicht gesagt. «Sie sieht ihm zu, wie er den gewohnten Schuss Milch zugibt, und nickt dabei, als versuche sie, sich die genaue Dosierung einzuprägen.»Eigentlich sieht der Kollege putzig aus, wenn er versucht, Wärme auszustrahlen. Als wüsste er genau, dass es da einen Knopf gibt, nur hat er vergessen, wo. Er meinte, er weiß, wie Ihnen zumute ist.«

«Wenn er sich da mal nicht täuscht.«