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Eine langgezogene Brücke führt über den Rio Minho. Auf der anderen Seite heißt sie ein Schild willkommen. Jede Ankunft in Portugal fühlt sich wie eine Heimkehr an. Die hochstehende Sonne brennt auf Hartmuts Oberschenkel, sein Blick streift kleine Baumgruppen, die nicht dicht genug sind, um sie Wälder zu nennen, und über allem wölbt sich das Azurblau des portugiesischen Himmels. Entschlossen wendet er den Kopf nach rechts.

«Hey! Bem-vinda a Portugal!«Insgesamt dürfte er zwei volle Jahre in Lissabon, Rapa und verschiedenen Küstenorten zugebracht und in dieser Zeit mehr Sonnenlicht abbekommen haben als in seinem gesamten restlichen Leben. Seine Tochter antwortet lediglich mit einem knappen Nicken.

«Nenn mir drei Dinge«, sagt er unverdrossen,»die dir spontan zu Portugal einfallen. Substantive oder Adjektive, ganz egal, aber ohne lange nachzudenken.«

«Du zuerst.«

«Sommer, Rapa, grüner Wein.«

«Avó Lu, Avô und João. «Philippa schaut aus dem Seitenfenster, das Mobiltelefon hält sie in der Hand. Den jüngsten Meldungen zufolge hat das EKG den Verdacht auf Herzinfarkt bei Artur zwar nicht bestätigt, aber seine Blutwerte sind auffällig. Weder Notfall noch Entwarnung, so lautet die Zusammenfassung, die Hartmut vor der Abfahrt auf Marias Mailbox gesprochen hat. Der alte Mann soll für einige Tage im Krankenhaus bleiben. Lurdes ist derweil alleine in Rapa und verbringt mehr Zeit in der Kirche als zu Hause. Man erreicht sie nur abends.

«Du machst es einem auch nicht leicht, weißt du. «Hartmut versucht seiner Tochter einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen.»Dinge, hab ich gesagt.«

«Ich muss aufs Klo.«

«Jawohl. Du musst aufs Klo, und dein gehorsamer Fahrer beeilt sich. Sogar das Tempolimit werde ich für dich missachten.«

Kurz nach vier Uhr zeigt die Anzeige am Armaturenbrett, aber nach portugiesischer Zeit ist es eine Stunde früher. Auf der Straße herrscht wenig Verkehr, und wenn Hartmut in den Rückspiegel blickt, begegnet er einer verfremdeten Version seiner selbst. Als er heute Morgen im Bad stand, den Rasierer kurz in die Hand genommen und wieder beiseitegelegt hat, fiel ihm der Turiner Kollege ein, der auf der letzten Summer School einen Gastvortrag gehalten hatte. In geschliffenem, beinahe aristokratischem Englisch und mit einem sorgfältig ungepflegt aussehenden Dreitagebart, der auf Hartmut größeren Eindruck machte als Professor Mancinis Ausführungen. Dass Philippa spöttisch fragen würde, wen er mit seinem neuen Look beeindrucken wolle, war vorauszusehen. Ihm gefällt die Veränderung.

Gleich nach dem ausgiebigen Frühstück hat er das Hotel verlassen und den Rest des Vormittags in der Altstadt verbracht. Er wollte sich die Füße vertreten und ein wenig bummeln, vielleicht ein Museum besuchen, aber sobald er losgegangen war, schlugen seine Füße dieselbe Richtung ein wie zwei Tage zuvor. Es war ein sonniger und erfrischend kühler Morgen, an dem es guttat, sich im Freien aufzuhalten. Philippa wollte ihn um zwei Uhr abholen. Die Gassen von Santiago lagen noch im Schatten und erwachten nur langsam zum Leben.

Durch denselben Seiteneingang wie zwei Tage zuvor betrat er die Kathedrale. Sonnenlicht fiel durch die oberen Fenster und hüllte alles in einen silbrig weißen Glanz. Hinter dem Altarraum erkannte Hartmut schemenhaft Leute, die die Statue des Apostels umarmten. Langsam durchquerte er das Hauptschiff, setzte sich auf eine Bank und beobachtete das Treiben bei den Beichtstühlen. Statt durch das seitlich angebrachte Gitter zu sprechen, kniete ein junger Mann frontal vor dem Priester und bewegte die Schultern, als würde er von Krämpfen geschüttelt. Ein anderer erhob sich lächelnd und nahm seine wartende Begleiterin bei der Hand. Europäer und einige Asiaten füllten die Kirche, Kinder und Alte, die Andächtigen, die Unbeteiligten und feixende Jugendliche. Touristen fotografierten trotz der Verbotsschilder, Gläubige falteten die Hände, und zwischendrin schritten katholische Eliteschüler in blauen Kutten, blickten streng und zischelten vernehmlich, wenn es ihnen zu laut wurde.

Man könnte es sein Kirchengefühl nennen: fremd zu sein auf vertraute Weise. Beinahe sicher, dass nur Hirngespinste ihn bedrängten. Zwei Mal seit Marias Umzug hat er nachts die Schlafzimmertür verschlossen, aus Angst vor unerwünschten Epiphanien. Um nicht zu enden wie der glatzköpfige Mann, den er gelegentlich auf dem Bonner Marktplatz sieht. In einer abgetragenen Windjacke verteilt er Pamphlete und wettert gegen die Verderbtheit der Welt, ignoriert, belächelt oder verhöhnt von der geschäftigen Umwelt. Hartmut saß auf der Kirchenbank und konnte den Blick nicht vom Beichtstuhl Nummer fünf abwenden. Der Priester darin war jünger als seine Kollegen, und statt zu lesen oder vor sich hin zu dämmern, legte er beide Hände auf das schmale Fensterbrett, als wollte er eine Plauderei beginnen. ›Pro Linguis Germanica et Hungarica‹ stand in Holz eingraviert über der Tür. Im Aufstehen spürte Hartmut Schweiß auf seine Stirn treten. Ein Gefühl, als wäre er durchsichtig nur für andere, nicht für sich selbst. Hatte Sandrine nicht etwas Ähnliches gesagt? Wenn das stimmt und nicht nur für Kirchen gilt, dachte er, wozu dann das Versteckspiel?

«Vielen Dank«, sagt Philippa ironisch.»Mein gehorsamer Fahrer.«

Hartmut schaut auf und sieht die Ausfahrt rechts aus dem Blickfeld verschwinden. Ein Schild gibt die Entfernung zum nächsten Rastplatz mit vierzig Kilometern an.

«Tut mir leid, ich war unaufmerksam. Wieso hast du nicht eine halbe Minute früher Bescheid gesagt?«

«Weißt du, dass du manchmal die Lippen bewegst, wenn du nachdenkst? Als würdest du leise Selbstgespräche führen. Ich wollte dich nicht stören.«

«Deine Blase«, sagt er ruhig, obwohl er ebenfalls aufs Klo muss und ihren mokanten Tonfall nicht mag.»Jetzt dauert es wieder zwanzig Minuten.«

«Als Kind hab ich dich manchmal am Schreibtisch beobachtet. Wenn deine Tür offen stand, konnte ich dich durch das Schlüsselloch von meiner hindurch sehen. Immer einen Ellbogen aufgestützt und mit dem Kinn auf dem Handrücken. Da hast du auch manchmal vor dich hin geredet, aber was, das konnte ich nicht verstehen.«

«Hm-m.«

«Damals war mir nicht klar, was für einen Beruf du eigentlich hast. Ich hätte es besser gefunden, du wärst Tierarzt.«

«Das ist deine markanteste Erinnerung an mich aus deiner Kindheit: wie ich am Schreibtisch vor mich hin murmele?«

«Jedenfalls die erste, die mir einfällt, wenn du neben mir sitzt und vor dich hin murmelst. Wer ist Sandrine Baubion?«

«Bitte?«

Ohne sich ihm zuzuwenden, deutet Philippa auf einen zusammengefalteten Zettel in der Mittelkonsole. Sandrines Name, die Adresse und der Code ihrer Haustür stehen darauf. Es ist ein gutes Beispiel für seine Gründlichkeit, dass er in einer Notiz für sich selbst den Namen ausgeschrieben hat. Wahrscheinlich hat Philippa beim letzten Stopp an der Tankstelle daraufgeschaut.

«Eine alte Freundin«, sagt er.»Genauer gesagt, war sie meine erste große Liebe. Damals in Amerika. Ich hab sie vor einer Woche besucht, auf dem Weg zu Bernhard Tauschner.«

«Weiß Mama das?«

«Nein, aber sie kann es ruhig wissen. Sandrine und ich haben sporadischen Kontakt, und ich hatte Lust, sie zu sehen. Du würdest sie übrigens mögen. Sie hat auch so was Entschiedenes. Wir haben geredet und zusammen zu Abend gegessen, dann bin ich in mein Hotel gefahren.«

Philippa kratzt sich an der Wade. Sie trägt ein T-Shirt der Universität von Santiago und Bermudashorts, die möglicherweise für Männer gefertigt wurden. Hartmut wechselt auf die linke Spur und zieht an einem Lkw vorbei. Inzwischen sind es draußen neunundzwanzig Grad. Grün und braun und hügelig liegt das Land unter der Sonne. Weiße Dörfer schlafen in den Mulden.

«Du weißt nicht viel über mein Leben vor deiner Geburt, richtig?«, fragt er.

«Jedenfalls weiß ich seit gestern etwas mehr über deinen Drogenkonsum.«

«Mein Drogenkonsum, ein großes Thema. Ich glaube erwähnt zu haben, dass es der erste Joint meines Lebens war. Mit Ende fünfzig.«