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«Ich verstehe kein Wort«, sagt er.»Aber du kannst mir das auch sagen, ohne zu brüllen.«

«Verschon mich mit deiner Sachlichkeit! Auf dem Wohnzimmertisch lag Ibsen, und im Schlafzimmer stand Brecht, und das war kein Zufall. Sie hat sogar daran gedacht, die Lesezeichen zu verschieben, jeden Tag um ein paar Seiten. Oh, so schlau! Sie konnte nicht mehr in den Spiegel schauen, und du hast es nicht gemerkt, weil nachmittags fünf Leute in deiner Sprechstunde saßen. Oder weil eine Sitzung eine halbe Stunde länger gedauert hat. Ich hab’s auch nicht gemerkt, weil ich einen Freund hatte, von dem ich nicht angefasst werden wollte. Wahrscheinlich wäre es mir damals sowieso egal gewesen.«

«Okay«, sagt er, um ihren Redefluss zu unterbrechen.

«Gar nicht okay. Du verstehst bis heute nicht, warum sie nach Berlin gegangen ist. Weil du alles auf dich beziehst. Sie hatte Angst vor dem Schritt, und sie hat immer noch Angst, aber sie musste raus. Geht das in deinen Kopf? Was für eine verdammte Scheiße! Warum ist es mein Job, dir das zu sagen? Ich hab damit nichts zu tun!«Sie macht ihren Gurt los und schlägt mit der flachen Hand so hart auf die Ablage, dass Hartmut befürchtet, der Beifahrer-Airbag werde aufgehen. Schweiß läuft ihm über beide Schläfen. Die Doktorarbeit pfeffert sie in seine Richtung und öffnet die Tür.

«Warte«, sagt er.

«Warte selbst. Bleib einfach sitzen und warte.«

Er schnallt sich ab und stürzt aus dem Auto, als hätte es zu brennen begonnen. In Wirklichkeit brennt es draußen. Heiße trockene Luft füllt seine Lungen, als er den Schatten der Bäume verlässt, um seiner Tochter den Weg abzuschneiden.

«Warum hat sie mir das nicht gesagt?«

«Frag nicht mich!«, brüllt sie.»Frag verdammt noch mal nicht dauernd mich!«

Der Bremer Camper legt die Zeitung beiseite und folgt dem Schauspiel mit unverhohlener Neugier. Einen Steinwurf entfernt sitzen er und seine Frau auf ihren Stühlen, glotzen herüber und verstehen jedes Wort. Hartmut fasst Philippa am Oberarm, um sie am Weitergehen zu hindern.

«Du kannst nicht davon anfangen und dann nicht darüber reden wollen.«

«Es ist euer Problem!«Wütend entzieht sie ihm den Arm, und als er noch einmal versucht, sie festzuhalten, reißt sie sich mit einer heftigen Bewegung los. Dann verschwindet sie in Richtung des Toilettenhäuschens.

Einen Moment lang scheint die Hitze ihm die Luft abzuschnüren. Keuchend steht Hartmut zwischen den Sitzbänken und bemerkt erst jetzt, dass er in der linken Hand die Doktorarbeit hält. Rot eingebunden und verknickt an der oberen Ecke, weil Philippa sie als Wurfgeschoss verwendet hat. Die Rückkehr des Weltgeistes nach China. Als Betreuer wird ein Professor Dr. Hainbach angegeben. Hartmut starrt auf seinen Namen und weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. Unter den Pinien wird gestikuliert. Trotz der sengenden Sonne nimmt Hartmut auf einer der Bänke Platz und legt die Arbeit vor sich auf den Tisch. Sein Auto steht mit offenen Türen am Straßenrand.

Was jetzt?

Bedächtig leert er seine Taschen, holt Handy, Portemonnaie und Autoschlüssel hervor und breitet alles vor sich aus, als hielte er Inventur. Was an einem Leben sind die veränderbaren Teile? Wo fängt man an? Es ist kein Plan, sondern eine Verlockung seiner Vorstellungskraft, die ihn schließlich zum Telefon greifen und wählen lässt. Erst funktioniert es nicht, weil er die 0049 vergessen hat, dann klickt es ein paar Mal und das Freizeichen ertönt. Vielleicht überbrückt er bloß die Zeit, bis er sich ausmalen kann, wie Maria im Wohnzimmer sitzt, auf die Fernbedienung drückt und ohne Erwartung zum Bildschirm blickt. Den DVD-Spieler hat er gekauft, als er für sein Buch ein paar alte Bergman-Filme anschauen wollte, die sie dann zusammen gesehen haben. Schöne Abende, dachte er. Hat seine Frau tatsächlich die Lesezeichen ihrer Bücher verschoben, um ihn zu täuschen?

Es klingelt eine Weile. Hohler als sonst, wie ein Echolot. Im Übrigen hat Maria mehr als einmal gesagt: Ich halte diese leeren Nachmittage nicht mehr aus, ich muss was tun. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Wer hingegen zu beschäftigt ist…

«Weinrich. «Sie meldet sich wie Frau Hedwig. Nur mit dem eigenen Namen, als wäre es ihr Büro.

«Tag, Frau Weinrich«, sagt er.»Hainbach hier. Es sind zwar Semesterferien, aber ist Herr Breugmann zufällig im Haus?«

«Sie kennen ihn. Er betrachtet es ja gewissermaßen als sein Haus. «Frau Weinrich ist seit dem Sommer Breugmanns neue Sekretärin. Eine resolute Person mit tiefen Dekolletés, langen roten Fingernägeln und einer scharfen Zunge. Wehe dem, der aus ihrer grellen Aufmachung die falschen Schlüsse zieht. Sie bringt jedem Menschen die Menge an Respekt entgegen, mit der sie selbst bedacht wird. Im Zweifelsfall ein Gran weniger.

«Übrigens hatte er gestern Geburtstag«, fügt sie hinzu.»Vierundsechzig ist er geworden und beantwortet Komplimente für sein jugendliches Aussehen auf Latein. Ich hab’s versucht zu googeln, leider ohne Erfolg.«

«Wozu klagen wir über die Natur? Sie hat sich doch gütig gezeigt. Ich glaube von Seneca. «Breugmann zitiert den Spruch jedes Jahr.

«Nächstes Mal weiß ich Bescheid. Jetzt stelle ich Sie durch.«

«Danke.«

Hinter dem Restaurant erkennt Hartmut einen armseligen Spielplatz, wo ein einzelnes Kind auf der Schaukel sitzt. Er vermutet, dass Philippa weint vor Wut und deshalb nicht zurückkommt. Die Bremer Camper scheinen zu beratschlagen, ob einer von beiden sich in die Nähe des ominösen Kerls auf der Bank wagen soll, um etwas aus dem Wohnmobil zu holen. In der Leitung klickt es.

«Ja, Breugmann. «Wie stellen solche Leute es an, dass sie schon mit der Nennung ihres Namens Autorität ausstrahlen?

«Tag, Herr Breugmann. Hainbach hier.«

«Herr Hainbach. Freue mich, von Ihnen zu hören.«

Denkste, denkt Hartmut. Die Hitze umgibt ihn wie eine unsichtbare Hülle. Schweiß läuft ihm über die Haut, und er fühlt sich frei auf eine etwas riskante Weise. Am Nullpunkt, wo alles gleichermaßen möglich erscheint. Oder schlicht egal.

«Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«, fragt er.

«Für Sie immer. «Seit über fünfzehn Jahren sind sie Kollegen und haben in dieser Zeit kein privates Wort gewechselt, das nicht unter den Begriff ›Floskel‹ fiele.

«Ich fasse mich kurz, es geht um einen Doktoranden, den ich gerne in Ihre Obhut geben würde«, hört Hartmut sich sagen, als wäre das ein alltäglicher Vorgang.»Ein Chinese, der über Hegel arbeitet. Nicht mein Fachgebiet, wie Sie wissen. Es geht um Geschichtsphilosophie und Metaphysik. Eher Ihr Metier.«

«Das, ähm…«Sind offenbar nicht die Glückwünsche, die der Kollege erwartet hat.»Handelt es sich um jemanden, der gerade in Bonn anfängt?«

«Er ist seit sechs Jahren hier.«

Hartmut hört Breugmann in den Hörer atmen.

«In welcher Zeit er von wem betreut wurde?«

«Genau genommen von niemandem. Er hat mein Kolloquium besucht und war einige Male in der Sprechstunde, aber Sie verstehen, die Sprachbarrieren, die fachlichen Hürden. Darf ich kurz abschweifen, bevor ich’s vergesse? Ich soll Sie herzlich von Bernhard Tauschner grüßen.«

«In der Tat.«

«Er hat mir das ausdrücklich aufgetragen.«

«Das kommt überraschend. Demnach sind Sie ihm begegnet? Wie geht es ihm?«Tatsächlich hat Breugmann sich bereits wieder gefangen, und Hartmut fühlt den wachsenden Widerstand, gegen den er spricht. Einen wie Breugmann kriegt man nur in die Knie, indem man ihm von hinten auf den Rücken springt. Er sieht ihn vor sich an seinem breiten Schreibtisch. Altes Familienerbstück, Massivholz, wiegt eine halbe Tonne.

«Es geht ihm hervorragend. Nächstes Jahr will er heiraten.«

«Das freut mich aufrichtig«, sagt Breugmann ungerührt.»Der Doktorand, von dem Sie sprachen…?«