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«Also?«, fragt er.

«Er hat angefangen«, sagt Philippa.»Lief an mir vorbei und meinte irgendwas von wegen: Das ist zwar Portugal, trotzdem kann nicht jeder parken, wo er will. Wieso müssen Deutsche andere Leute immer belehren? In diesem furchtbaren Ton.«

«Deshalb hast du ihn angebrüllt?«

«Ich hab gesagt, es geht ihn einen Dreck an, wo wir parken. Daraufhin meinte er, ich müsste wohl mal was hinter die Ohren bekommen. Da bin ich hingelaufen und wollte den Tisch umschmeißen oder so was. Hab mich aber nicht getraut. Mein Training in Hamburg war zur Selbstverteidigung. Attackieren ist schwieriger. «Sie sieht auf ihre Hände und nickt.»Du kannst es ganz gut. Platzierter Kick. «In ihrem Hals sitzt ein erschrecktes Schlucken, das in Weinen oder Lachen umschlagen könnte. Allmählich kühlt die Luft im Wagen ab.

«Du könntest in deiner Tasche nach einem Pflaster suchen, falls du so was hast«, sagt Hartmut.

«Ich hab eine Mullbinde. Soll ich dir einen Turban drehen wie früher?«

«Jedenfalls wirst du kein Foto machen und deiner Mutter schicken.«

«Nein. Mit dem Bart würde sie dich sowieso nicht erkennen. «Kurz ruht ihr Blick auf ihm, bevor sie sich zur Rückbank umdreht. Was er wirklich fühlt, ist weder Triumph noch Beschämung, sondern etwas von der Art, das man heute nicht mehr gut sagen kann. Dass er getan hat, was er tun musste. Wenn jemand deine Tochter ein Flittchen nennt, musst du kräftig hinlangen, um ihretwillen und damit das Wort dich nicht jahrelang verfolgt. Worte können das, er weiß es aus eigener Erfahrung. Diesmal hat er die Gefahr abgewendet. Alles andere ist nicht so wichtig.

~ ~ ~

13 João nennt es sein Arbeitszimmer, obwohl er als Zahnarzt nicht zu Hause arbeitet und der kleine Raum einer Abstellkammer gleicht. Kartons stapeln sich in den Ecken, und der Schreibtisch ist so voll, dass Hartmut einige Minuten räumen musste, um Platz zu schaffen für seinen Laptop. Durch die offene Balkontür hört er, wie auf dem Dach des benachbarten Einkaufszentrums gearbeitet wird. Einen Taschenrechner hat er gefunden und seinen Computer eingeschaltet, aber vorerst trinkt er Kaffee und lässt den Blick über das Wandregal schweifen. Ein paar Bücher aus der Science-Fiction- und Fantasy-Abteilung stehen dort, Bildbände über Rockbands, viele Krummsäbel und Dolche, maßstabsgetreue Modelle von Motorrädern, dazu Aktenordner und zahnmedizinische Fachliteratur. Das gerahmte Foto auf dem obersten Regalboden zeigt ein junges Paar am Hochzeitstag. Schön, ernst und bereit zum Glück. Die feine Staubschicht auf dem Glas lässt Maria und ihn merkwürdig entrückt erscheinen.

Es ist halb zehn am Morgen. Träge wendet Hartmut den Kopf und betrachtet die vertraute Kulisse von Saldanha. Hinter dem Einkaufszentrum erhebt sich ein unscheinbares Bürogebäude mit getönten Scheiben, daneben leuchtet der Schriftzug des América Diamond’s Hotel. Über den Palmen entlang der Avenida Fontes Pereira de Melo tauchen in regelmäßigen Abständen Flugzeuge auf. Sie schweben herab aus tiefblauem Himmel und verschwinden Richtung Norden, wo der Flughafen von Lissabon liegt. Fünfunddreißig Grad wurden vorausgesagt und werden in Kürze erreicht sein.

«Não te atrevas!«, ruft João im Wohnzimmer. Wag es nicht! Philippa lacht triumphierend und antwortet zu schnell, als dass Hartmut sie verstehen könnte. Schon am Frühstückstisch haben die beiden das Sortiment inspiziert und sich für ein Videospiel namens Martial Arts Duel entschieden. Seit einer halben Stunde gehen sie aufeinander los. Marias jüngerer Bruder ist für Philippa immer noch der große Kumpel aus Lissabon, der nie langweilige Fragen nach der Schule gestellt, sondern zur selben Zeit und mit derselben Begeisterung wie sie Harry Potter gelesen hat. Außerhalb seiner Praxis verzichtet João darauf, sich wie ein Erwachsener zu benehmen. Seit gestern Abend ziehen die beiden einander unentwegt auf und sind so vergnügt und streitlustig wie es die Bergenstädter Zwillinge früher waren.

Im Posteingang klickt Hartmut Katharinas letzte Mail an, stützt beide Ellbogen auf die Tischplatte und liest.

Wichtig seien zwei Dinge, betont sie. Erstens die individuelle Absenkung seiner Rentenansprüche aufgrund des vorzeitigen Ausscheidens; je nachdem, wann er gehen wolle, wären das vier bis fünf Jahre, die von seiner Dienstzeit abgezogen würden, ergänzt um etwaige Rentenansprüche aus der neuen Tätigkeit. Darüber könne sie nichts sagen, solange sie das entsprechende Gehalt nicht kenne. Übrigens sei ihr auch die Gesamtzahl seiner Dienstjahre nicht bekannt gewesen, sie habe das auf der Basis seines akademischen Lebenslaufs überschlagen und sei auf achtundzwanzig gekommen, die frühere Angestelltenzeit mitgerechnet. Zweitens bitte sie, die allgemeine Absenkung des Versorgungsniveaus für Beamte seit Inkrafttreten des entsprechenden Gesetzes von 2001 zu beachten. Er solle sich nicht davon blenden lassen, dass im angehängten Hinweisblatt von ›Erhöhung‹ gesprochen werde. Der Anpassungsfaktor trage eine Null vor dem Komma, folglich komme am Ende weniger heraus. Kurz gesagt, wenn man von fünf wegfallenden Dienstjahren ausgehe, mindere sich sein Ruhegehalt um rund zehn Prozent. Bei achtundzwanzig Dienstjahren würde er achtundzwanzig mal 1,80391 Prozent seines letzten Bonner Bruttogehalts bekommen. Plus Familienzuschlag. Das ist, als Hartmut es ein Mal aus- und zwei Mal nachgerechnet hat, erstaunlich wenig. Dass er nach scharfem Nachdenken auf neunundzwanzig Dienstjahre kommt, macht die Sache nur unwesentlich besser. Bleibt das Haus, die von Herrn Meier in Aussicht gestellte und nicht eben fürstliche Summe. Außerdem die Frage, ob das Ganze genehmigt würde. Mit welcher Begründung will er eigentlich aussteigen?

Hartmut klickt die Berechnungstabellen weg und bittet Frau Hedwig in wenigen Sätzen, ein Exemplar der Doktorarbeit von Herrn Lin an den Kollegen Breugmann weiterzuleiten. Dann klappt er den Computer zu und stellt sich auf den Balkon. Die umliegenden Häuser mit ihren heruntergelassenen Rollläden sehen aus wie fensterlose weiße Silos. Das Einkaufszentrum bekommt eine neue Belüftungsanlage. Dicke Aluminiumrohre glänzen in der Sonne, und über allem liegt ein Leuchten, für das es hier ein eigenes Wort gibt: luminosidade. Es füllt den Raum unter dem Himmel wie das Innere eines Ballons. Maria hat nur noch einen Flug über Genf bekommen, morgen Abend um zwanzig nach neun wird sie in Porto landen. Was soll er ihr sagen? Wieder hört er Joãos Stöhnen und Philippas Lachen. Durch die andere Balkontür geht er ins geräumige, nach Tabak riechende Wohnzimmer. Hinter dessen zugezogenen Gardinen ist es wohltuend schattig.

«Deine Tochter macht mich alle«, ruft sein Schwager ihm entgegen. Den Tisch haben die beiden beiseitegeschoben, sitzen nebeneinander vor dem riesigen Flachbildschirm und sind vor allem damit beschäftigt, den anderen bei der Bedienung der Spielkonsole zu behindern. Fünf zu zwei lautet der Score von ›Flippa‹ gegen ›Big Joe‹. Obwohl nur die Figuren auf dem Bildschirm kämpfen, ist João in seinem ärmellosen Shirt bereits schweißgebadet. Früher hat er viel trainiert, jetzt geht er auf die fünfzig zu und wird füllig um die Hüften. Mit der Schulter versucht er Philippa zu stören, aber deren Figur setzt zum Sprung an, steigt hoch in die Luft und streckt den Gegner mit einer Reihe schneller Tritte nieder. Eine triumphierende Melodie zeigt das Ende des Kampfes an. João tut es seiner Figur nach und rollt schwerfällig auf den Rücken.

«Little bitch«, keucht er auf Englisch und streckt die Arme von sich.

Im Sitzen deutet Philippa eine Verbeugung an und sieht ihrer Figur auf dem Bildschirm merkwürdig ähnlich. Shorts und weißes Unterhemd, schlanker als Hartmut sie vom letzten Urlaub in Erinnerung hat. Weil sie keinen BH trägt, drücken die Spitzen ihrer kleinen Brüste gegen den Stoff.

«Du kämpfst wie ein Teddybär. «Sie steht auf, trinkt einen Schluck Wasser und lässt sich nicht anmerken, dass die Anwesenheit ihres Vaters sie stört. Früher in Rapa haben João und sie ganze Nachmittage an der Tischtennisplatte verbracht, und nicht nur hat ihr Onkel sie nie gewinnen lassen; keinen Punkt hat er ihr geschenkt. Wenn Philippa weinen musste vor Frustration, ist sie nach oben gegangen, und João setzte sich auf die Terrasse und rauchte eine Zigarette. Im richtigen Leben werde ihr schließlich auch nichts geschenkt, meinte er. Maria hat ihn gehasst dafür, aber Philippa ist nach zehn Minuten wieder hinuntergegangen, um Revanche zu fordern. Im Tischtennis hat sie bis heute nicht gegen ihren Onkel gewonnen. Den ersten Sieg, sagt sie, peile sie für das Jahr 2010 an.