Seine Lehrzeit war von geradezu erschreckender Kürze. Nach nur fünf Fahrten auf der John Roe kannte er den Fluss und seine Eigenheiten so genau, dass kein Geringerer als Horace Bixby, eine Koryphäe des Lotsenstandes, kopfschüttelnd und bartkratzend verkündete, ihm nichts mehr beibringen zu können. Das Navigieren beherrschte er bereits vorher, und nach seiner langen Fahrt durch die unberechenbaren Eismassen und tückischen Strömungen der Nordwestpassage empfand der jetzt Einundzwanzigjährige auch das Steuern zwischen langsam wandernden Untiefen, Sandbänken und bröckelnden Uferböschungen als nahezu einfach.
So viel Erfolg wurde ihm natürlich weidlich missgönnt, und da er auch sonst ein merkwürdiger Bursche war, der sich von den Lustbarkeiten und Unterhaltungen seiner Kollegen eher absetzte und seltsame altenglische Bücher las, galt er als arrogant und wurde selten bei seinem Namen, sondern nur »der Engländer« genannt – mit aller Abfälligkeit, die die geborenen Amerikaner in diese Bezeichnung nur legen konnten. Neben der Literatur waren die Huren von New Orleans sein größtes Vergnügen; ein weiterer Umstand, den seine biederen, oft gar puritanischen Standeskollegen in entrüsteter, aber stiller Schärfe missbilligten.
Unbestritten waren allein seine Fähigkeiten. Aber auch die allein reichten natürlich nicht aus, um ihn in den Gemeinnützigen Lotsenverband – zeitweise die mächtigste Berufsorganisation der Vereinigten Staaten – aufzunehmen. Der Engländer blieb ein freier Lotse, der an den Vorteilen des Verbandes – und das waren insbesondere die an allen Anlegestellen von allen Verbandslotsen in besonders verschlossenen Postkästen hinterlegten Nachrichten über Wasserstände, Fahrrinnen und Hindernisse des Flusses – nicht partizipierte. Zeitweise war seine berufliche Existenz sogar insofern bedroht, als der Verband ein Gesetzesvorhaben einbrachte, das die Reedereien verbindlich dazu verpflichten sollte, nur noch organisierte Lotsen zu beschäftigen. Aber immer wieder fanden sich kleinere Unternehmen und gewagtere Transportaufgaben, für die der Engländer verpflichtet wurde, und sein Erfolg mit der Eclipse würde ihm wohl wieder für einige Jahre ein Auskommen sichern.
14.
Tatsächlich war John Gowers noch keine zwei Tage in St. Louis, als ihm wieder eine Heuer in den Süden angetragen wurde. Er tat also, was er immer tat: lieh sich ein halbes Dutzend Bücher in der Bibliothek der Literarischen Gesellschaft von St. Louis und war eine knappe Woche später wieder in New Orleans. Er hatte in diesen zwei Jahren den Mississippi bis hinauf nach St. Paul befahren, den Ohio bis Cincinnati, den Missouri, Arkansas und Red River einige Male bis in die jungen Städte des Westens, Kansas City, Fort Smith, Alexandria. Aber seine Heimat war das französische Viertel der bunten, trägen Stadt geworden, in der der alte Meschacebé, der zuletzt stracks Richtung Osten geflossen war, sich endlich dazu entschloss, den noch siebzig Meilen weiter südlich gelegenen Golf von Mexiko aufzusuchen.
In gewissem Sinne war es New Orleans gewesen, das den gesamten riesigen Westen des Kontinents in den Besitz der Vereinigten Staaten brachte – denn nur diese eine Stadt sollte Robert Livingstone, US-amerikanischer Gesandter in Paris, im Jahr 1803 den Franzosen abkaufen. Der französische Verhandlungsführer, ein gewisser Napoleon Bonaparte, gab dem Amerikaner jedoch zu verstehen, dass diese strahlende Perle nicht ohne die hässliche, unwegsame Auster zu haben sei; und so wechselte für siebenundzwanzig Millionen Dollar, die in den dritten Koalitionskrieg und die Schlacht von Austerlitz investiert werden konnten, ganz Louisiana – das damals noch bis zu den Rocky Mountains reichte – den Besitzer.
Mitgekauft wurde ein Bevölkerungsgemisch, das es in dieser Weise weder in Amerika noch sonst in der Welt noch einmal gab. Reinblütige französische Kreolen, die einst die vermögende Oberschicht der karibischen Inseln ausgemacht hatten, ehe Revolutionen, Sklavenaufstände oder britische Kriegsschiffe sie ans amerikanische Festland spülten, wo sie Zuckerrohr-und Baumwollplantagen in der Größe europäischer Fürstentümer begründeten. Spanier und Spanisch sprechende Mulatten aus der Unter-und Mittelschicht der Großen Antillen; Mischlinge in den reizvollsten Brauntönen, die zum großen Ärger der Kreolen oft mit diesen gleichgesetzt wurden. Amerikaner selbstverständlich. Weiße, angelsächsische Protestanten, die auf der Suche nach Anbaugebieten für ihren Virginiatabak vor drei, vier, fünf Generationen die Alleghenies überschritten und das Tal des Tennessee durchzogen hatten und dann doch auf Baumwolle umgestiegen waren.
Eine Unmenge schwarzer Sklaven, die für ihre unterschiedlichen Herren all diese Produkte pflanzten, hegten, ernteten, hier und da Überlebende der indianischen Urbevölkerung, Natchez und Seminolen, dazu gestrandete Seeleute aller Nationen und Rassen. Die Quadroons, die stolz darauf waren, Anteile all dieser Völkerscharen in sich zu vereinen, und schließlich die Acadiéns oder Cajuns; französische Katholiken, im 18. Jahrhundert von den Briten aus Kanada deportiert, für die in Louisiana kein Land mehr übrig gewesen war und die in den Mangrovensümpfen ein nahezu amphibisches Dasein als Reisbauern und Reptilienjäger führten.
In New Orleans stieß all das zusammen, ohne dass es zur Explosion kam: Voodoo und Katholizismus, angelsächsisches Kalkül und das heiße Blut der Karibik – es war kein Wunder, dass die Stadt im Rest der Vereinigten Staaten als unzivilisierbarer Sündenpfuhl galt. Ein Wunder war, dass alle halbwegs miteinander harmonierten oder sich zumindest arrangierten, dass New Orleans so friedlich, so fröhlich blieb. Nur nachts durchstreiften vielköpfige, organisierte Räuberbanden die Stadt, die aber selten etwas anderes als sich gegenseitig ausplündern konnten. So war selbst die Kriminalität in New Orleans eine Art Sport, den seine Opfer gemeinhin überlebten, wenn sie sich an die Regeln hielten.
John Gowers wohnte im Vieux Carré oberhalb der großen Flussschleife nach Süden, bewohnte wahrhaftig seit zwei Jahren und damit länger als jemals zuvor seit der Vertreibung aus seiner Kindheit zwei kleine Zimmer im Obergeschoss eines Vergnügungsetablissements der gehobenen Preisklasse. Er hatte sogar Bilder an die Wand geheftet, benutzte einen Teil des rings um das Haus laufenden Balkons mit den schmiedeeisernen Geländern zum Frühstücken und war einer bürgerlichen Existenz nie näher gewesen. Die Eigentümerin und Betreiberin des Bordells, eine etwa vierzigjährige Mulattin, deren angelsächsischer Blutanteil lediglich in den ungewöhnlich »weißen« Namen Margret-Ann eingeflossen war, hatte er sich verpflichtet, weil er gelegentlich rabiate, betrunkene oder zahlungsunfähige Kunden aus dem Haus warf, und auch die Mädchen mochten ihn, denn er behandelte sie wie Damen und war im Bett ungewöhnlich zärtlich.
Die schwüle Hitze, die den meisten Menschen zu schaffen machte, genoss er in vollen Zügen; vermutlich, weil er so lange im Eis gelebt hatte. John liebte den Süden und die brennende Sonne, liebte den Schweiß, der bei der kleinsten Bewegung den Rücken hinunterlief und die Haut seiner wechselnden Bettgefährtinnen glatt und angenehm salzig machte. Maggie hatte ihm ein neues Mädchen zugeführt, eine sehr helle Negerin, und er durchwanderte ihren warmen Körper mit Händen und Lippen, knetete, satt geliebt, schließlich die Muskeln ihres Rückens, ihr großes, aber festes Gesäß, ihre Beine, bis sie schnurrte wie eine Katze.
Es war die vielleicht zärtlichste Behandlung in ihrem höchstens neunzehnjährigen Leben und machte sie weicher, jünger, als sie seit ihrer Kindheit gewesen war. Maggie hatte sie auf dem lokalen Sklavenmarkt erworben und mit ihr den gleichen Handel abgeschlossen wie mit all ihren farbigen Mädchen. In zwei, höchstens drei Jahren würde sie genug verdienen, um sich freikaufen zu können und in den Norden zu gehen. Die Zinsen des in sie investierten Kapitals waren die sexuellen Dienstleistungen, die sie erbrachte und die die Kundschaft enger an Maggies Haus binden würde. Und obwohl auch er die Früchte dieses Handels genoss, wusste John, als das Mädchen in seinem Arm schlief wie ein Kind, wieder einmal, was ihn am Süden störte.