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15.

Es war eine bestürzend einfache Erkenntnis, die den Investigator veranlasst hatte, sich in Melbourne niederzulassen: Niemand auf der Welt wartete auf ihn. Diese Erfahrung war für John Gowers etwas so Selbstverständliches, dass er nicht einmal das Bedürfnis hatte, darüber nachzudenken.

In Kalkutta, als seine Wunden heilten, hatte er zuerst eine Passage nach England abwarten wollen, aber die Preise waren so unverschämt gewesen, dass er sich fragte, was er eigentlich in England wollte. Er dachte über die Kapkolonien nach, Südafrika. Zog Frankreich in Betracht, eine Reise durch das Rote Meer, Ägypten, den Mittelmeerraum. Australien war eigentlich nur die dritte Wahl gewesen, aber das Schiff, die Passage nach Perth günstig. Außerdem sprach man dort Englisch.

Sein ursprünglicher Plan war gewesen, irgendwo an der Ostküste auf einem heimkehrenden Walfänger nach New Bedford oder Nantucket anzuheuern. Aber auch die Vereinigten Staaten, New York, New Orleans, waren ihm weniger Heimat und mehr Gewohnheit gewesen. Er merkte es, als er in Melbourne ankam. Hier fand er ein England, das ihm gefiel; britischer als das immer rascher und immer vollständiger industrialisierte Mutterland, aber jünger, unverbraucht. Die Reichtümer dieses Landes waren noch nicht verteilt, und hinter den südlichen Ausläufern der Great Dividing Range lag ein ganzer Kontinent, unbekannt, unberührt.

Er war jetzt einunddreißig Jahre alt, die meisten davon unterwegs gewesen, unruhig, unstet, von Ort zu Ort, Schiff zu Schiff, Meer zu Meer. John Gowers hatte beschlossen, zur Ruhe zu kommen. Die nicht unbeträchtliche Summe, die er in Indien verdient hatte, verschaffte ihm die entsprechenden Möglichkeiten – den Wunsch redete er sich ganz bewusst ein, nachdem er an seiner Schläfe ein graues Haar entdeckt hatte.

Seine Blicke in den Spiegel waren stets flüchtig gewesen, wenn man von der Zeit absah, als er in Deborah verliebt war und sich – wie jeder junge Mensch – gefragt hatte, ob etwas an ihm einem Menschen des anderen Geschlechts gefallen könnte. Ansonsten hatte er ein Leben gelebt, in dem Spiegel nur vorkamen, um sich alle zwei, drei Wochen, vielleicht auch Monate, zu rasieren. Entsprechend funktional war sein Bild von sich selbst, seinem Gesicht, seinem Körper, seinem Leben.

Nüchtern stellte er sich die Frage: Wann, wenn nicht jetzt?, und beantwortete sie, indem er eine kleine Wohnung in der City von Melbourne nicht mietete, sondern kaufte und mit seinem anschließend nahezu halbierten Vermögen sogar ein Bankkonto eröffnete. Freude empfand er bei alldem nur ein einziges Maclass="underline" als er seine Bücher in ein Regal stellte und Ishrats Schwert mit zwei Nägeln an der Wand darüber befestigte. John Gowers hielt die Kämpfe seines Lebens für beendet.

Dass genau darin sein Problem bestand, stellte er erst im Verlauf der nächsten Monate fest. In Melbourne geschahen weniger Verbrechen, als dem finanziellen Auskommen eines privaten Ermittlers zuträglich war. Das lag nicht so sehr daran, dass die Leute hier friedlicher waren als sonst auf der Welt, sondern daran, dass sich mithilfe der korrupten Polizei, Justiz und Verwaltung der Kolonie ein System etabliert hatte, in dem man sich von Verbrechen oder ihren Folgen weitgehend freikaufen konnte. Biedere Geschäftsleute planten entsprechende Ausgaben in ihren Kalkulationen fest ein, und es war preiswerter geworden, unersetzbares Diebesgut einfach zurückzukaufen, als die Täter verfolgen und inhaftieren zu lassen.

In den Gefängnissen saßen deshalb mehr Schuldner als Kriminelle, daneben nur ein paar Schläger und Trunkenbolde. Den unverbesserlichsten dieser eher belächelten Gesellen, die auf einer angeblich streng geheimen Liste als »unfreundliche Elemente« verzeichnet waren, legten die Ordnungshüter früher oder später handgreiflich nahe, ihren Aufenthaltsort in die angrenzende Provinz Neusüdwales zu verlegen. Dort, in der ehemaligen Strafkolonie Botany Bay, war man eher an solche Existenzen gewöhnt und würden sie sich auch selbst wohler fühlen als im kleinen, aber feinen Victoria.

Das Einzige, was unbeherrschbar blieb, waren die ehemaligen Goldfelder im Norden Melbournes, und so wurden sie, neben einer Handvoll Ehebruchsfälle, die Haupteinnahmequelle des Investigators, der hier regelmäßig auf Kopfgeld jagte; eine allerdings jämmerliche Beschäftigung, die weit unter seinen Möglichkeiten lag. Gowers rieb sich deshalb – zumindest innerlich – die Hände, als der Reeder Robert Maguire bei ihm vorsprach und ihn um Hilfe bat. Seine Kinder waren entführt worden, und das verlangte nach der Trostlosigkeit eines Dreivierteljahres endlich wieder nach solider Ermittlungsarbeit.

16.

Die Tat ist alles – nichts der Ruhm! Noch ehe er Latein konnte, hatte Gustav von Tempsky sich das Motto seines Familienwappens in diese schlichten Worte übersetzen lassen und war davon überzeugt, sein Handeln und Wandeln so eingerichtet zu haben, dass es seinem Wappenspruch Ehre machte. Allerdings kollidierte dieser öffentliche Anspruch auf Bescheidenheit immer wieder mit seinen journalistischen und schriftstellerischen Ambitionen. Von Tempsky wurde berühmt.

Was sollte er tun? Er hatte Mittelamerika nun einmal bereist, die Mosquito Coast kolonisiert und konnte seinen Anteil an diesen Ereignissen ja schlecht verschweigen. Eine Weile hatte er mit dem Gedanken gespielt, sein Buch Mitla, das diese Ereignisse auf mitreißende Weise behandelte, in der dritten Person zu schreiben. Aber das hätte man ihm, nachdem Julius Cäsars Gallischer Krieg längst Schullektüre aller zivilisierten Nationen geworden war, ja auch wieder als Vermessenheit auslegen können.

In Neuseeland war er rasch zum Kommandanten der Forest Ranger aufgestiegen; einer irregulären Truppe mit dem Auftrag, den Guerillakrieg, den die aufständischen Maori gegen die britischen Ansiedlungen und Farmen führten, in Busch und Wildnis zurückzutragen und die Eingeborenen damit auf ihrem eigenen Gebiet auf ihre eigene Weise anzugreifen. Es war der enorme Erfolg dieser brutalen Taktik, der von Tempsky den Ehrennamen Manu-Rau eingebracht hatte. Er war im Waikato-Krieg wahrhaftig der Vogel, der überall fliegt, und zu einem der am meisten gefürchteten – und damit geachteten – Krieger der Pakeha geworden.

Am Waikato vollbrachte er auch seine bislang größte Heldentat, indem er zwei Dutzend Soldaten rettete, die am Fluss in das mörderische Kreuzfeuer eines Hinterhalts geraten waren. Das trug ihm zwar eine ehrenvolle Erwähnung im offiziellen Kriegsbericht ein – was nicht weniger bedeutete, als dass sein Name einige Monate später vor der englischen Königin verlesen wurde –, aber das Victoriakreuz, die höchste Auszeichnung der britischen Armee, erhielt ein anderer Offizier seiner Einheit. Nicht, dass er danach gestrebt hatte; die Tat ist alles – nichts der Ruhm! Er hatte nicht einmal darauf gehofft, aber verdient, verdient hätte er es wohl eher als Charles Heaphy!

Von Tempsky zeichnete später ein recht gekonntes Bild von dieser Aktion, in dessen dramatischem Mittelpunkt ein Offizier stand, der ihm ausgesprochen ähnlich sah, obwohl er das selbst jedes Mal abstritt. Die Tat allein zählte! Das erwähnte er bei jeder Gelegenheit, und seine Vorgesetzten zogen aus so viel demonstrativer Bescheidenheit den klugen Schluss, dass hier ein Mann war, der alles tun würde, um seinem verdrängten Ehrgeiz zu genügen.