Выбрать главу

Colonel Thomas McDonnell oder »Fighting Mac«, wie er in Neuseeland familiär genannt wurde, war der älteste Sohn eines geradezu begnadeten neuseeländischen Händlers, Aufschneiders und Verschwenders gleichen Namens, der seinen vier Söhnen wenig mehr hinterließ als den brennenden Wunsch nach öffentlicher Anerkennung und einen fast paranoiden Hang zu Eifersucht und Verschwörungstheorien, wenn diese Anerkennung ausblieb. Nach zehn Jahren Herumtreiberei im gesamten australesischen Raum und mehreren gescheiterten Versuchen, sich eine Existenz aufzubauen, fand Thomas junior in den Kolonialstreitkräften und den Waikato-Kriegen endlich die Nische, die er gesucht hatte.

Persönlicher Mut, geschickte Lobbyarbeit, aber auch eine echte Begabung für den Beruf eines kommandierenden Offiziers hatten seinen militärischen Aufstieg befördert und ihn nach Abzug der britischen Truppen zum ersten, wenn auch nicht zum populärsten Soldaten der Kolonie gemacht. Der populärste hieß nach wie vor Manu-Rau. Dass McDonnell und nicht von Tempsky die Position des Oberbefehlshabers einnahm, fand seinen einfachen Grund darin, dass »Fighting Mac« Neuseeländer war. Als es darum ging, eine eigenständige neuseeländische Armee aufzustellen – die zunächst als »Armed Constabulary«, also bewaffnete Polizeitruppe deklariert wurde, um das Mutterland nicht zu brüskieren –, war McDonnell der Mann der Stunde und der preußische Söldner derjenige, den die Kolonialregierung mit einem anerkennenden Schulterklopfen ins Privatleben entließ.

Trotz ihrer Rivalitäten war sich McDonnell aber über die Qualitäten Manu-Raus vollkommen im Klaren und freute sich darüber hinaus ehrlich, seinen Freund und Mentor »Von« wiederzusehen – vielleicht auch gerade, weil der Deutsche nun endlich sein Untergebener war.

»Wer ist es diesmal, Tom?«, fragte von Tempsky, wobei er ihren militärischen Rangunterschied demonstrativ überging. »Tawhiao?«

Matutaera Te Pukepuke Te Paue Te Karato Te A Potatau Tawhiao Te Wherowhero war mehr als ein Häuptling; er war ein König. Oberhaupt einer Bewegung, die nach europäischem Vorbild die vorher lange zerstrittenen Stämme des Waikato-Beckens unter gemeinsamer Führung vereinte und sogar verschiedene Mechanismen moderner europäischer Staatswesen übernommen hatte: Steuern, Polizei und die Dienstpflicht in einer allerdings eher zwanglosen Armee. Das Entscheidende an dieser »Königsbewegung« war aber, dass sie dem Verkauf von Land an die Weißen, den bisher die einzelnen Häuptlinge und Stämme sozusagen auf eigene Faust betrieben hatten, ein Ende setzte. Das brachte die Kingites oder Königlichen natürlich in einen immer blutigeren Konflikt mit den Engländern, denen es dabei gar nicht so sehr um das Land ging. Sie hatten bereits mehr Land, als die weißen Siedler bearbeiten konnten. Es ging ums koloniale Prinzip, es ging um die natürliche Überlegenheit der weißen Rasse, der die Vorstellung von einem funktionierenden, eigenständigen Maoristaat mit zentralisiertem Königtum unerträglich war.

»Nein«, sagte McDonnell, der sein Vorgesetztenverhältnis ebenfalls jovial vergaß. »Es ist Titokowaru, soweit wir wissen. Er hat noch nicht angefangen, und Gott allein weiß, wann er losschlägt. Aber unsere Kupapa sagen, dass er die Stämme am Taranaki aufwiegelt. Er … na, du kennst ihn ja!«

Ja, Manu-Rau kannte den Häuptling der Ngaruahine vom Stamm der Ngati Ruanui, einen der gefürchtetsten Maorigeneräle in den nun schon zwei zurückliegenden Kriegen um die Provinz Taranaki, die noch immer nicht völlig unterworfen war. Er wusste auch, dass dieser Mann gefährlicher war als Tawhiao und die ganze noch sehr umstrittene Königsbewegung, denn Titokowaru war eben kein König, kein Politiker. Er war ein Krieger.

»Was werden wir also tun?«, fragte von Tempsky, obwohl er es natürlich schon wusste.

»Nun«, antwortete McDonnell, »wir wollen jedenfalls besser vorbereitet sein als das letzte Mal. Wir brauchen Männer.« Seit die britische Regierung beschlossen hatte, keine regulären Truppen mehr nach Neuseeland zu schicken, lag die Verteidigung der Pakeha ganz in den Händen der Armed Constabulary, der örtlichen Milizen und ihrer überall angeworbenen Söldner. »Was hältst du von Werbungen im Süden? In Otago sitzen noch immer ziemlich viele erfolglose Goldsucher.«

Von Tempsky tat gekonnt so, als hätte er die feine ironische Spitze überhört, denn auch seine Ambitionen in Bezug auf Edelmetallfunde waren seinem Freund Tom selbstverständlich bekannt.

»Wenig«, erwiderte er. »Zu britisch, wenn du verstehst.« Was er meinte, war: Es ging auf der neuseeländischen Südinsel, die keine aufständischen Eingeborenen oder Ähnliches kannte, seit Jahrzehnten viel zu friedlich zu, um Kämpfernaturen hervorzubringen. Er konnte keine Soldaten gebrauchen, die womöglich beim ersten Schuss Pulver desertierten; das würden sie ohnehin früh genug tun.

»Also Australien«, stellte McDonnell fest. »Sydney oder Melbourne?«

»Melbourne«, sagte von Tempsky nach kurzem Überlegen, denn auch die Unmenge desperater entlassener Sträflinge, die sich in Sydney einschreiben lassen würde, wären ein unzuverlässiger Haufen. Außerdem würde er auf diese Weise, quasi als sentimentale Erinnerung, die Goldfelder wiedersehen, auf denen auch er einst sein Glück gesucht hatte.

»Gut«, sagte McDonnell. »Zwei Schiffe, du und ich!« Er meinte natürlich: »Ich und du«, schenkte zwei Gläser Port ein, und die beiden Männer tranken auf den Erfolg ihres Unternehmens.

17.

Die Schafe mussten geschoren, die Wolle gekämmt, der Flachs gebrochen, gehechelt und beides zu Garn versponnen werden. Das Garn wurde zu Stoffen verwoben, die Stoffe gefärbt, gebürstet und zugeschnitten, vernäht. All das war Handarbeit, all das war teuer, und so konnte, trotz wechselnder Moden, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auch ein relativ wohlhabender Mann nicht erwarten, dass er in seinem Leben mehr als acht, vielleicht zehn Hosen besitzen würde. Das änderte sich erst durch die industrielle Tuchherstellung und die massenhafte Verwendung eines neuen Rohstoffs.

Baumwolle war leichter. Leichter zu gewinnen und leichter zu verarbeiten. Durch die Ausbeutung vor allem der indischen Kolonien war sie im 18. Jahrhundert auch längst kein orientalisches Luxusgut mehr, sondern eine massenhaft verfügbare Ware. Baumwollstoffe waren auch leichter zu tragen, angenehmer, wogen ganz einfach weniger als die schwere, ölige Schafwolle, waren weicher, geschmeidiger als das steife Leinen, weitaus billiger als die kostbare Seide, und anstatt umständlich Muster hineinzuweben, konnte man sie schlicht und einfach bedrucken. Auch das Waschen der Kleidung, seit dem Mittelalter ein häufig unlösbares, zeitweise allerdings auch stark vernachlässigtes Problem, wurde durch Baumwollstoffe einfacher. Die Baumwollfaser saugte weniger Wasser auf, trocknete also schneller. Sie war robuster und vertrug auch hohe Temperaturen, ohne sich zu verändern, sodass der Schmutz sich leichter aus ihr lösen ließ, ohne dass der Stoff einlief.

Die Welt wollte die neuen Kleider, wollte sie schneller, als sie produziert werden konnten, und dieser massenhafte Bedarf beflügelte den Erfindungs-und Geschäftsgeist des eben erst aufgeklärten Zeitalters. 1776 schnurrte in Cromford, Derbyshire, England, Richard Arkwrights erste vollautomatische, wassergetriebene Spinnfabrik – und das Garn wurde billig. Adam Smith, ein exzentrischer Philosophieprofessor aus Glasgow, formulierte zeitgleich die Gesetze und Prozesse von Angebot, Nachfrage, Arbeitsteilung und Konsum, schrieb mit The Wealth of Nations so etwas wie die Genesis in der Bibel des Kapitalismus. Zehn Jahre später erfand der anglikanische Geistliche Edmund Cartwright den mechanischen Webstuhl – und nach dem Garn wurde auch das Tuch billig.

Die Epigonen, Nachahmer, Patentdiebe aus Manchester schluckten diese Pioniere schnell, und überall wurden nun aus Werkzeugen Maschinen, aus Maschinen Fabriken und aus Fabriken eine Industrie. Die Handwerker, Heimwerker, häufig ganze Familien, die bislang auf eigene Rechnung und in ihren eigenen Häusern kleine Mengen Garn oder Tuch hergestellt hatten, wurden zu Arbeitskräften in der Textilindustrie. Die Männer schleppten die Baumwollballen heran, be-und entluden Transportfahrzeuge, warteten, reparierten die oft komplizierten Transmissionssysteme zwischen Wasserrad, Dampfmaschine und den riesigen Spinnapparaturen oder Webstühlen. Die Frauen überwachten den Produktionsablauf und lernten die schwierige Kunst, gerissene Fäden bei laufenden Maschinen wieder anzudrehen. Die Kinder – je kleiner, je besser – krochen in und unter die Maschinen, um sie zu reinigen und Baumwollreste aufzusammeln.