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Das war nichts Neues; jahrhundertelang hatten Familien auf ähnliche Weise zusammengearbeitet. Das war auch nichts Schlimmes, denn in den ersten zehn, zwanzig Jahren waren die Löhne gut, etwa das Dreifache des Existenzminimums für einen erwachsenen Mann, und die Familien erwirtschafteten in Zwölf-oder Sechzehnstundenschichten einen bescheidenen Wohlstand. Erst als die massenhafte Nachfrage fürs Erste befriedigt, der Markt gesättigt war, verfielen die Preise. Und mit den Preisen fielen die Löhne, denn Löhne, am Ende des Produktionsprozesses, waren von jeher das, woran ein Unternehmer am gefahrlosesten sparen zu können glaubte. Die Arbeiter wurden jetzt je nach Auftragslage angeheuert oder entlassen, aber selbst das war nichts Ungewöhnliches, sondern aus der Landwirtschaft mit ihrem saisonal bedingten Arbeitsaufkommen durchaus bekannt. Allerdings war die Entwicklung der Märkte nicht so berechenbar wie die Jahreszeiten.

Unbekannt und furchterregend waren vor allem die Ausmaße, die die Frage von Beschäftigung oder Nichtbeschäftigung dadurch annahm. Es gab keine sozialen Sicherungssysteme, nur die rasch aufgezehrten Notgroschen, und anders als etwa jahrhundertelang bei den Landarbeitern und Lohnknechten konnte ein Mann, der im Winter entlassen wurde, keineswegs damit rechnen, im Sommer wieder Beschäftigung zu finden. Anders als in Handwerk, Vieh-und Landwirtschaft spielten auch persönliche Fähigkeiten, also die Arbeitsqualität oder gar persönliche Bindungen an den Lohnherrn, keinerlei Rolle mehr; dazu war die Arbeit zu unqualifiziert, waren die Fabriken zu groß geworden.

Die existenzielle Verunsicherung, die diese Entwicklungen auslösten, kann kaum überschätzt werden. Hunderttausenden von Menschen wurde eine persönliche Lebensplanung nahezu unmöglich gemacht, denn sie waren Prozessen ausgeliefert, die nicht einmal die völlig verstanden, die von ihnen profitierten. Und zur Sorge um Lohn und Brot kam unterschwellig, aber nicht weniger bedrückend das Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit, das Menschen so leicht zu Bestien machen kann. Schon die zweite Generation des entstandenen Proletariats war so zu einem Anhängsel der Maschinen geworden, nur mehr ein mobiles Element, das Arbeiten erledigte, die die Maschinen noch nicht selbst erledigen konnten.

Und die Maschinen konnten vieles … Wunderbares! Nur keine Baumwolle anbauen – sodass auch am anderen Ende des Produktionsprozesses: seinem Anfang, ein erhebliches ökonomisches Problem entstand. Baumwolle war unter den entsprechenden klimatischen Bedingungen, etwa in den Südstaaten der USA, zwar leicht anzubauen, aber die ungeheuren Mengen, in denen sie aufgrund der Industrialisierung des Textilgewerbes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebraucht wurde, machten einen wirtschaftlichen Anbau auf der Basis von Lohnarbeit praktisch unmöglich. Denn alle Schritte im Produktionsablauf waren mechanisiert und automatisiert worden, nur um die Baumwolle preiswert anzupflanzen, zum Wachsen zu bringen, zu ernten, hatte man noch keine geeigneten Maschinen erfunden, brauchte man Hände. Brauchte man Sklaven.

Dass die jüngste, fortschrittlichste Nation der Erde, entstanden aus dem Freiheitswillen der Menschen, zu ihrem Aufstieg und Wohlstand die älteste und unmenschlichste Wirtschaftsform – die Sklaverei – benutzte, war im Grunde kein Anachronismus, keine gegenläufige Bewegung zu Fortschritt und Industrialisierung, sondern deren direkte ökonomische Folge.

Entgegen der nach dem und durch den amerikanischen Bürgerkrieg populär, ja Allgemeingut gewordenen Propaganda der siegreichen Nordstaaten ging es den Sklaven im Süden der USA allerdings mehrheitlich besser als etwa den Arbeitern im industrialisierten England. Das lag vor allem daran, dass die Sklavenhalter des Südens, ganz im Gegensatz zu vielen Sklavereigegnern im Norden, keine Rassisten waren! Die neurotische Furcht vor dem andersfarbigen Menschen, seinem Schweiß, seinem Geruch, seinem Anblick, wäre im Süden einfach lächerlich gewesen. Schwarze Ammen säugten die Kinder ihrer Herren, schwarze und weiße Kinder wuchsen gemeinsam auf, zumindest bis letztere ins Schulalter kamen.

Auf neun von zehn Plantagen standen die Sklavenhalter gemeinsam mit ihren Sklaven auf dem Feld, taten die gleiche Arbeit, aßen das gleiche Essen aus den gleichen Schüsseln, hockten hinter den gleichen Büschen. Ebenso besaßen neunzig Prozent der Pflanzer und Farmer jeweils nur etwa fünf oder sogar weniger Sklaven, was diese nicht nur mehr oder minder zu Familienmitgliedern, sondern auch zu ihrem wertvollsten Besitz machte. Ein guter Arbeiter kostete tausendzweihundert Dollar, und so wenig, wie ein Bankier Geld verbrennt, wäre es einem durchschnittlichen weißen Farmer eingefallen, seine Sklaven vorsätzlich zu schädigen.

Eine Ausnahme war das Peitschen, eine bis 1850 allerdings auch in der amerikanischen Marine gepflegte Form der Bestrafung. Für einen aufsässigen Sklaven war das Peitschen die einzige vernünftige Sanktion, was hätte man anderes mit ihm tun sollen? Ihn einsperren? Der Sklave hätte sich ins Fäustchen gelacht und im Gefängnis auf die faule Haut gelegt. Ihn verstümmeln? Auf Wasser und Brot setzen? Das hätte nur seine Arbeitskraft und damit seinen Wert gemindert. Schlimmstenfalls konnte man ihn verkaufen; etwas, was die schwarzen Familien ihr Leben lang fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Aber auch auf der Auktion brauchte der schwarze Teufel dann nichts weiter zu tun, als sein grimmigstes Gesicht zu machen, seine Aufsässigkeit offen zu zeigen – und sein Preis fiel ins Bodenlose. Wer würde sich denn für teuer Geld einen faulen Stänkerer ins Haus holen?

Von dieser moderaten, ja familiären Sklavenbehandlung unterschieden sich allein die Großgrundbesitzer; Pflanzer, die fünfzig, hundert, zweihundert und mehr Sklaven ihr Eigen nannten. Zwar pflegten auch sie ihr Eigentum mit eher patriarchaler als brutaler Strenge, aber die auf den großen Plantagen geradezu zwangsläufige Trennung zwischen Weißen und Schwarzen führte dazu, dass Letztere stärker als Nutzvieh betrachtet und ausgebeutet wurden. Auch An-und Verkauf und die damit verbundenen Spekulationen waren hier an der Tagesordnung. Mancher züchtete sogar Sklaven, um sein Kapital billig zu vermehren, und hier und da zur Abschreckung einen aufzuhängen oder totzuschlagen, betrachtete man lediglich als eine radikale Art, seine Investitionen zu schützen.

Auf derlei Auswüchsen basierten die Vorurteile, die die weichen Gemüter im Norden gegen die Sklaverei ins Feld führten – und nicht auf der simplen Tatsache, dass Menschen Menschen besaßen. Das hatte es immer gegeben, mochte es nun Sklaverei oder Leibeigenschaft, Frondienst oder Industriearbeit heißen; das war durch die Geschichte, ja sogar durch die Bibel gerechtfertigt. Warum hätte der Herr die Neger schwarz erschaffen sollen, wenn er nicht wollte, dass sie für die Weißen arbeiteten, den Weißen gehörten? Dass dieses Eigentum auch verpflichtete, zu seiner Versorgung, zu Hege und Pflege, Güte und Strenge, stand ja außer Frage. Wenn sie von Puritanern, Katholiken und Evangelikalen auch unterschiedlich beantwortet wurde.