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Weiter im Norden entstanden mitunter kleine Zeltstädte, in denen Zuschauer aus den entfernteren Gegenden die Vorüberfahrt der Dampfer beobachten konnten. Barfüßige Burschen auf Ackergäulen versuchten, den Schiffen zu folgen, so weit es ging. Andere hatten eher Augen für die von überall her angereisten jungen Damen, Farmerstöchter in ihren besten Kleidern. Mancher Mann lernte bei dieser Gelegenheit eine Frau kennen, der er sonst vielleicht nie im Leben begegnet wäre, und wenn die Kinder solcher Verbindungen Zweitnamen wie Magnolia, Princess, Belle Key oder – armer Bursche! – General Quitman trugen, verdankten sie ihre Existenz gemeinhin einem Rennen der gleichnamigen Schiffe.

Ein Rennen führte stets flussaufwärts, sodass die Schnelligkeit eines Dampfers wesentlich von der Stärke und Qualität seiner Maschine abhing. Immer wieder waren Heizkessel explodiert und ganze Schiffe in die Luft geflogen, weil die Maschinisten beides überschätzten. Seit ein Bundesgesetz den zulässigen Dampfdruck pro Quadratzoll begrenzte, waren es allerdings andere Faktoren, die über die Geschwindigkeit eines Schiffes entschieden. Das war natürlich das Wetter – aber die Rennen fanden stets im zuverlässigsten Sommer statt, wenn auf Wochen hin keine Wolke am Himmel stand und kein plötzlicher Sturm das Wasser zu Flutwellen aufstaute.

Das war natürlich das Gewicht, also die Fracht – aber für ein Rennen wurde die Fracht sorgfältig so tariert, dass problemlos die beste Wasserlage gehalten werden konnte. Wusste man also etwa, dass ein Schiff bei einem Tiefgang von fünfeinhalb Fuß vorn und fünf Fuß achtern am schnellsten lief, würde es nach Erreichen dieses Optimums nicht einmal mehr eine Schachtel mit homöopathischen Pillen an Bord nehmen. Auch die Trimmung spielte eine wichtige Rolle, weshalb man irgendwann aufgehört hatte, bei einem Rennen Passagiere mitzunehmen. Denn Passagiere, gleich welchen Alters, liefen ständig von backbord nach steuerbord, je nachdem, auf welcher Seite es gerade etwas zu sehen gab, während ein echter Dampfschiffer sich an Bord bewegte wie die Luftblase in einer Wasserwaage.

Die Feuerung war entscheidend; Holz oder Kohle – eine Glaubensfrage – denn Kohle war schwerer, hielt aber länger vor, während Holz sich schneller verbrauchte, aber unterwegs leichter zu laden war. Für ein Rennen wurde die Feuerung vorbestellt und entlang der Strecke bereitgehalten. Flachboote mit irrwitzigen Holzstapeln oder tief im Wasser liegende Kohlenprahme wurden in den Strom gerudert, in voller Fahrt an die Schiffe angehängt und längsseits gehievt. Während allerdings unglaubliche Mengen an Holz schneller an Bord verstaut wurden, als man »Mississippi« buchstabieren konnte, wirkten die schwerfälligen Kohlenprahme wie Schleppanker, und das entsprechende Schiff verlor erheblich an Fahrt.

Bei einem Rennen war also von entscheidender Bedeutung, wie viel Feuerung man verbrauchte, und das wiederum hing davon ab, welchen Kurs der jeweilige Dampfer steuerte. Je weiter er in der Flussmitte – also der Gegenströmung – fuhr, desto mehr fraßen die Kessel. Je geschickter er sich im flachen Kehrwasser der Ufer hielt, desto geringer war der Widerstand der Strömung, und desto länger hielt die Feuerung vor. Das ahnungslose Publikum, jubelnd und Fähnchen schwenkend, wenn das riesige Schiff mit einer Geschwindigkeit von fast fünfzehn Meilen in der Stunde eine Uferböschung so elegant passierte, dass der Barbier an Bord die gereckten Hälse der Zuschauer hätte rasieren können, hielt dieses Wunder der Steuerung und Navigation immer für eine Leistung der Kapitäne. Aber jeder, der sich mit dem Fluss und seinen Schiffen näher beschäftigt hatte, wusste natürlich, dass dies die hohe Kunst der Lotsen war.

3.

Von einem Mississippilotsen wurde erwartet, dass er den Fluss auswendig kannte – und das hieß nicht nur, dass er jederzeit anhand der Points, also der Orientierungspunkte und Landmarken der Ufer, wissen musste, wo genau sich sein Schiff befand, wo die jeweilige Fahrrinne verlief, wie hoch das Wasser stand und wie die dortigen Untiefen sich verschoben hatten, falls dies geschehen war, sondern dass er auf einer Strecke von rund anderthalbtausend Meilen tatsächlich jeden einzelnen Baumstamm kannte, der im Wasser lag, und sogar im Voraus sagen konnte, ob es ein Snag oder ein Sawyer war.

Ein Sawyer war ein unruhiger Kunde; ein »junger« Baumstamm, der sich zwar irgendwo in einer Untiefe verkeilt, aber seinen Platz noch nicht gefunden hatte und je nach Strömungsverhältnissen und Wasserstand auf-und abwippte oder nach rechts und links ausschlug wie der Schwanz eines ungezähmten Pferdes. Bei Hochwasser oder Sturm konnte sich ein Sawyer sogar wieder losreißen, und man tat gut daran, diese unberechenbaren Gesellen weiträumig zu umfahren. Ein Snag hingegen war zur Ruhe gekommen, steckte metertief in seinem Grund und häufte nun Treibgut, Pflanzen und Sediment um sich an, die ihn eines Tages zu einer neuen Uferböschung, einer Insel oder einem Riff machen würden.

Der alte Mississippi arbeitete in diesen Dingen so unablässig, als wäre er der Ansicht, dass das Land noch nicht fertig sei. Zu den Besonderheiten dieses Flusses gehörte es, dass er Sand, Schlamm und Geröll nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil in den Golf von Mexiko spülte. Das meiste verlor er unterwegs wieder, riss also an einer Stelle eine Uferböschung mit sich, um an einer anderen eine Untiefe daraus zu bauen, und änderte so noch in den Zeiten der Dampfschifffahrt fortwährend seinen Lauf. Auf den Landkarten sah es so aus, als würde der Fluss ständig über den sinnvollsten Weg zum Meer nachdenken.

Tatsächlich verkürzte er sich mit der Zeit; gab eine dreißig Meilen lange Flussbiegung, die er mit genügend Sediment gefüllt zu haben glaubte, kurzerhand auf und durchschnitt stattdessen bei Hochwasser die dazugehörige Landenge. War ein Mann also in einem Jahr noch stolzer Besitzer einer Plantage mit zwei eigenen Anlegestellen, saß er vielleicht schon im nächsten auf dem Trockenen und musste darüber nachdenken, wie er seine Ernte zu dem inzwischen meilenweit entfernten Fluss bekam. Ein Märchen, das die Schwarzen im tiefen Süden gerne erzählten, handelte von einem Feldsklaven namens Tip. Der legte sich eines Abends auf einer Landzunge in Missouri und am Westufer des Mississippi schlafen und erwachte als freier Mann in Illinois, auf dem Ostufer. Ob das wirklich geschehen war, wusste niemand, aber es war möglich; denn der Fluss bildete an dieser Stelle die Grenze zwischen dem Sklaven haltenden und dem freien Staat.

Für die Lotsen hieß all das, dass sie sich den gesamten Flusslauf, die Fahrrinnen, Inseln, Sandbänke und das übrige Groß und Klein nicht einmal, sondern einmal im Monat einprägen mussten. Das war nur möglich, indem sie ihn wieder und wieder befuhren, flussaufwärts, flussabwärts, bei Hoch-und Niedrigwasser, bei Tag und bei Nacht. Eines der ältesten Gesetze auf dem Mississippi sah deshalb vor, dass jeder Lotse kostenlos auf jedem Schiff mitreisen konnte, um sich den Fluss anzusehen. So kam es, dass auf beinahe jedem Dampfer – vor allem auf denen, die für ihre gute Küche bekannt waren – neben den angeheuerten und bezahlten Lotsen noch zwei oder drei ihrer Zunftbrüder mitfuhren, die dabei scheinbar nichts anderes taten, als über den Fluss und ihre früheren Fahrten auf ihm zu plaudern.

Tatsächlich aber, und ohne dass sie diesen Prozess bewusst steuerten, registrierten diese Männer jede einzelne der sechs-bis achttausend Lotungen an Bug und Heck, Backbord und Steuerbord. Und wenn man ihnen auf der Reise statt ihrer Schiffergeschichten das Alte Testament vorgelesen hätte, hätten sie am Ende der Fahrt genau gewusst, dass man im Buch Josua, Kapitel sieben bis zweiundzwanzig, die Trockenbarre Nr. 10 oberhalb von New Madrid passiert hatte und dass die Lotungen an Backbord im Kapitel neunzehn, Vers dreiundzwanzig folgende, zweimal hintereinander nur twaineinviertel statt twaineinhalb betragen hatten – was nur bedeuten konnte, dass die alte Sandbank sich nach Südwesten zu verlängern begann.