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5.

Der berühmteste Lotse auf dem Mississippi war der legendäre Isaiah Sellers, der den Fluss schon mit allem befahren hatte, was irgendwie schwamm. Er war definitiv vor dem ersten Dampfboot da gewesen und somit gut zwanzig Jahre älter als die erfahrensten Lotsen, die ihrem Handwerk in den 1850er-Jahren nachgingen. Es hieß, er habe die Fahrt St. Louis – New Orleans über siebenhundert Mal in beide Richtungen gemacht, was einer Lebensreise von eins Komma sieben Millionen Meilen und einem Tagesdurchschnitt von etwa neunzig Meilen entsprach.

Seine Erinnerungen reichten so weit zurück, dass er im Grunde über einen anderen Fluss sprach, wenn er über den Mississippi redete, und um seine Kollegen ja recht fühlen zu lassen, was für grüne Jungen sie im Vergleich mit ihm waren, pflegte er solchen Erzählungen mit Einleitungen wie: »Als Louisiana noch am Missouri lag« die letzte Würze zu geben.

Obwohl jeder wusste, dass seine Verpflichtung auf der A. L. Shotwell mehr oder minder symbolischer Natur war und die eigentliche Arbeit von den Lotsen George Ealer und Jeb Smith getan werden würde, erhöhte – zumindest den Zeitungsberichten zufolge – der Name Sellers die Chancen der Shotwell im bevorstehenden Rennen ganz erheblich. Ihr Gegner, die etwas kleinere, etwas leichtere Eclipse konnte jedenfalls nicht mit derartigen Berühmtheiten aufwarten, sodass die Wetten bald drei zu eins gegen sie standen, obwohl sie ihre zumindest gleichwertige Geschwindigkeit schon mehrfach unter Beweis gestellt hatte.

Kaum war das Rennen jedoch am 30. Juni 1857 gegen siebzehn Uhr in New Orleans gestartet, schienen sich die Berichte zu bestätigen und die geballte Erfahrung der Sellers-Ealer-Smith auszuzahlen. Die Shotwell schwenkte als Erste in die schmale Fahrrinne bei Carrolton Bend ein und lag fünf Stunden später bei Einbruch der Nacht und vor Donaldsonville bereits gut fünfhundert Yards in Führung.

In dieser ersten Nacht stand ein leuchtender weißer Vollmond am wolkenlosen Himmel des tiefen Südens, und deshalb waren die Ufer des Mississippi bei Baton Rouge auch weit nach Mitternacht noch von zahllosen Zuschauern bevölkert. Mütter weckten ihre schlafenden Kinder auf, Betrunkene steckten ihre Köpfe in Wassertonnen, damit sie den Anblick der großen Schiffe nicht versäumten, die tiefschwarze Linien in die ungeheure Fläche aus flüssigem Silber schnitten, in die der Mond den großen Strom zu verwandeln schien. Die Distanz war nicht wesentlich größer geworden; wie ein Schatten folgte die kleinere Eclipse dem Kielwasser der majestätischen A. L. Shotwell, wie ein Echo klang das Aussingen ihrer Lotgasten zum dunklen Ufer hinüber.

Bei Red River Landing erfolgte bei Sonnenaufgang der erste ernsthafte Angriff des kleineren Schiffes. Während die Shotwell zum Ostufer herüberkreuzte, um den gefürchteten Sandbänken auszuweichen, die der Red River hier weit in den Mississippi schob, verließ sich die Eclipse offenbar auf ihren geringeren Tiefgang, blieb auf der Westseite des Stroms und jagte mit viel Glück über die unberechenbaren Untiefen hinweg. Da die Strömung hier entsprechend stärker war, erreichte sie dadurch allerdings nicht allzu viel.

Den ganzen folgenden Tag über belauerten die Schiffe einander; wartete die Eclipse auf irgendeinen Fehler der Shotwell, um an Engstellen an ihr vorbeizuziehen, legte die Shotwell Volldampf vor, wenn sie nach dem Kreuzen in eine breitere Fahrrinne kam, und gewann so der Eclipse, die das Gleiche natürlich erst Minuten später tun konnte, Meter um Meter ab.

Als sie nach vierundzwanzig Stunden Vicksburg erreichten, lag die Shotwell fast eine Meile in Führung. Hier geriet der Eclipse plötzlich ein Floß mit begeisterten – böse Zungen behaupteten später: extra dafür bezahlten – Zuschauern ins Gehege, und die Folge war ein Ruderschaden, der sie vier Stunden aufhielt. Vier Stunden – das waren fast fünfzig Meilen. Ein nahezu uneinholbarer Vorsprung, wenn kein Wunder geschah oder die Shotwell gleichfalls Pech hatte.

In der zweiten Nacht, deutlich dunkler als die erste, holte die Eclipse zwar wieder einiges von ihrem Rückstand auf, passierte Helena, also die Hälfte der Strecke, aber dennoch erst knapp drei Stunden nach der Shotwell. Das Rennen schien gelaufen.

6.

Titokowaru, Häuptling der Ngaruahine vom Stamm der Ngati Ruanui in der Provinz Taranaki, erwachte in völliger Dunkelheit, schweißgebadet. Er hatte wieder mit der Frau geschlafen in seinem Traum; einer Frau, die er nicht kannte und nie gesehen hatte. Seit er Keuschheit gelobt hatte für die große Aufgabe, die vor ihm lag, träumte er in fast jeder Nacht von der Frau.

Keuschheit gehörte eigentlich nicht zu den üblichen Traditionen der Maori. Titokowaru hatte dieses Mittel der Selbstdisziplinierung in seiner Zeit als Schüler methodistischer Missionare kennengelernt. Sie hatten ihn auf den Namen Hohepa Otene oder Joseph Orton getauft und sich viel von dem hochintelligenten und vielseitig begabten jungen Mann versprochen. Er hatte das Wissen beider Welten studiert, sprach die Sprachen beider Völker, konnte lesen und schreiben und war als Methodistenlehrer ebenso ausgebildet wie als Tohunga, als Maoripriester. Aber seine eigentliche Berufung war der Krieg.

Sein Vater, ein Unterhäuptling der Ngaruahine, hatte ihn schon als Elfjährigen mit in die zahllosen Kämpfe gegen die anderen Stämme genommen: gegen die Wanganui im Süden, die Tuwharetoa im Osten und die furchtbaren Waikato-Stämme des Nordens. Titokowaru hatte sich darin als ebenso kühner wie kühler, nämlich vollkommen furchtloser Krieger erwiesen. In den Taranaki-Kriegen gegen die Engländer hatte er unter anderem den Angriff auf New Plymouth angeführt und den britischen Kommandeur William King persönlich getötet, war aber auch selbst schwer verwundet worden.

Eine Kugel kostete ihn das Sehvermögen des rechten Auges, und eine scheußliche Narbe entstellte seither sein ohnehin nicht ansehnliches Gesicht. Ein englischer Soldat beschrieb ihn jedenfalls als »den hässlichsten und dunkelhäutigsten Eingeborenen, den ich je sah«. Mittelgroß, für einen Maori eher mager, hatte Titokowaru außerdem die exzentrische Angewohnheit, in einem europäischen Anzug und mit dem typischen Hut eines britischen Gentlemans in die Schlacht zu ziehen. Er galt als exzellenter Damespieler und war weder dem Alkohol noch den Frauen abgeneigt. Das wurde auch zu seinem größten Problem, denn in einem Fall gehörte Keuschheit eben doch zu den Traditionen der Maori: wenn ein Kampf bevorstand.

Titokowaru warf die Decke ab und stützte sich auf den rechten Ellenbogen. Seine Kleider klebten am Leib. Er strampelte sich wütend frei und versuchte aufzustehen, aber ein scharfer Schmerz im Bereich der Lendenwirbel zwang ihn zuerst auf die Knie. Mit gekrümmtem Rücken bewegte er vorsichtig Schultern und Hüften, fast wie eben in seinem Traum. Verlagerte dann sein Gewicht von einem Knie auf das andere, bis die Schmerzen erträglich waren. Dabei hatte er das Gefühl, dass die durchgeschwitzten Kleider tonnenschwer waren und ihn zu Boden drückten. Umständlich zog er sie aus, bis er so nackt war, wie ein Krieger, der das Whakapapa in Form von Tätowierungen auf nahezu allen Teilen seines Körpers trug, nur werden konnte.

Das Whakapapa war nicht nur eine Genealogie, die Reihe der Ahnen. Es bezeichnete auch die Herkunft des Kriegers aus dem Land selbst; die Geschichte der Landschaft, in der er geboren wurde, seinen ersten Schrei ausstieß, das erste Mal tötete, liebte, seine Kinder der Sonne entgegenhielt. Das Whakapapa war das Leben selbst, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in dem der einzelne Mann nur eine vorübergehende Rolle spielte.