Schließlich erhob sich Titokowaru aus seiner kauernden Stellung und spürte, wie gut das Spannen und Strecken beim Gehen seinen kräftigen Muskeln gefiel. Er trat in die Nacht hinaus, und der Wind trocknete seinen Schweiß, ließ ihn frösteln. Er fühlte, wie sein Glied in der Kälte zusammenschrumpfte, seine Hoden sich an den Körper zogen, aber er blieb nicht stehen, bis er die Palisade und ihre Wächter erreicht hatte. Die Männer starrten auf ihren nackten Häuptling, wagten aber nicht, ihn anzusprechen, denn ein seltsamer, tiefer Zorn lag auf seinem Gesicht. Er verließ das Pa, sein befestigtes Dorf Te Ngutu o te Manu, den »Schnabel des Raubvogels«, und erstieg eine Anhöhe, bis er die vertraute Silhouette des Taranaki zweieinhalbtausend Meter hoch in den Himmel ragen sah, eine Spur dunkler als die Nacht.
Hier blieb er stehen, hob beide Arme zu den unsichtbaren Wolken empor und murmelte in den schneidenden Wind die Worte: »Ich bin ihr, und ihr seid ich.« Titokowaru beschwor seine Ahnen um Hilfe bei dem, was vor ihm lag, nannte langsam ihre Namen, einen nach dem anderen; Männer, die er nie gesehen hatte, aber die in seinem Blut lebten. Immer weiter zurück reichte die Kette der Namen, der Häuptlinge und Krieger, bis zu Turi, dem legendären Kapitän des ersten Kanus, das auf Aotearoa landete, und noch weiter hinaus, zu den Tangata Whenua, den großen Seefahrern.
Tausend Jahre reichte Titokowarus Erinnerung zurück: »Ich bin ihr, und ihr seid ich.« Und als er den letzten Namen nannte, sah er, dass der Himmel über dem Taranaki allmählich grau wurde.
7.
Wie so oft, wenn er Goethe las, blieb Manu-Rau, der Vogel, der überall fliegt, bereits nach wenigen Sätzen hängen; nicht weil sie ihn zum Nachdenken reizten, sondern weil sie ihn auf eigene Gedanken brachten, die mit Goethe nichts mehr zu tun hatten. Auf diese Weise war er in seinen fast vierzig Jahren im Faust nie auch nur bis zum dritten Akt gekommen, es sei denn, er huschte darüber hin. Aber dann huschte er eben darüber hin, und Goethe brachte ihm überhaupt nichts. An die großen Dramen und Menschheitsentwürfe wagte er sich schon gar nicht mehr heran. Die Gedichte gefielen ihm, denn Gedichte blieben, trotz aller Gedanken, die sie womöglich auslösten, auch in sich selbst überschaubar. Als er die Gedichte überhatte, suchte Manu-Rau deshalb gezielt die kürzeren Dramen aus Goethes Gesammelten Werken heraus. Proserpina hatte er vorher durchgeblättert und kurz genug gefunden, um ein Tänzchen mit der Dame zu wagen.
Zum Schlafen war er zu unruhig gewesen, hatte eine Weile auf den Atem von Emilia und seinen drei Kindern gelauscht und sich dann, lange vor der Morgendämmerung, schon wieder erhoben. In der gemütlichen Wohnküche, dem größeren ihrer beiden Räume, entzündete er eine Paraffinlampe, stellte sie ins Fenster und setzte sich gemeinsam mit Goethe an den Tisch davor. Manu-Rau gefiel die Vorstellung, dass der neue Tag, der irgendwo in der achttausend Kilometer weiten Wasserwüste des Südpazifiks geboren wurde, zuallererst ihn sehen würde: in seinem Blockhaus auf der Coromandel Range, über dem Meer, Goethe lesend. Und nun hatte ihn dieser Kerl schon wieder erwischt, schon im vierten Vers:
»Und was du suchst, liegt immer hinter dir.«
War das so? Was lag hinter ihm? Und hatte er irgendetwas davon gesucht, abgesehen von dem verfluchten Gold, das sich immer vor ihm zu verstecken schien?
Manu-Rau war der Ehrenname, den seine Feinde, die Maori, ihm gegeben hatten, und er trug ihn mit Stolz. Aber geboren wurde er unter dem Namen Gustav Ferdinand von Tempsky in Braunsberg an der Mährischen Pforte, und das Whakapapa der Mährischen Pforte war mächtig in ihm. Auf diesem Weg waren sie alle gezogen, die Goten, Vandalen, die Hunnen und Langobarden, Bogumilen und Katharer. Hier, zwischen Riesengebirge und Hoher Tatra, war das Einfallstor aus den endlosen Ebenen des Ostens in die reichen alten Kulturgebiete des Südens und Westens: Süddeutschland und Frankreich, Italien und Griechenland. Durch die Mährische Pforte mussten sie alle: Attila und Alarich, Subotai und seine Mongolen – und es war ihre Unruhe, die Gustav Ferdinand von Tempsky um die ganze Erde getrieben hatte.
Früh fiel auf, dass der Junge vor nichts Angst hatte. Schon der Zehnjährige bestieg völlig allein den großen Schneeberg, hoch über die Baumgrenze, wo nur noch Krummholz wuchs, auf der Suche nach Rhiozagel, dem Dämon des Riesengebirges, ihn zu bekriegen. Als eben Achtzehnjähriger und nach seiner Ausbildung zum Offizier der preußischen Armee verließ er Deutschland, Europa und kolonisierte die Mosquito Coast in Zentralamerika. Den Einundzwanzigjährigen lockte das Gold nach Kalifornien; Reisen durch Mexiko, Guatemala, San Salvador folgten. Mit dreißig schürfte er auf den Goldfeldern von Bendigo in Australien; vier Jahre später der kurze Goldrausch auf der Coromandel Range und ein neues, das letzte Land.
Da er nie nennenswerte Mengen an Edelmetall fand, tat Gustav Ferdinand von Tempsky das, was er als preußischer Offizier am besten konnte: Er bildete Soldaten aus und kämpfte in zahllosen kleinen Kolonialkriegen für Kultivierung und Urbarmachung, für Fortschritt und Zivilisation. Hufschläge rissen ihn jetzt aus seiner Vergangenheit und Goethes Proserpina; draußen war die Sonne aufgegangen, und ein Reiter kam den langen, gewundenen Passweg hinauf, der nach Thames und Auckland führte. Von Tempsky trat ohne Angst, barfuß und in Hosenträgern vor sein kleines Haus.
»Morgen, Sir«, sagte der blutjunge Bursche mit der herzhaften Zwanglosigkeit, die kein Drill der Welt den britischen Kolonisten je austreiben würde. »Colonel McDonnell lässt Sie grüßen: Es wäre mal wieder so weit!«
Die meisten preußischen Offiziere hätten auf eine in dieser indiskutablen Form vorgetragenen »Kriegserklärung« mit Wutausbrüchen bis hin zum Schlagfluss reagiert, aber Manu-Rau ließ den Mann einfach stehen, ging bis zur Felskante und schaute über die See hinaus. »Colonel McDonnell« – sein Freund Tom hatte es weit gebracht seit den Waikato-Kriegen, in denen er, von Tempsky, noch McDonnells Vorgesetzter gewesen war. Diesmal würde es also umgekehrt sein, und er überlegte kurz, ob er das aushalten könnte.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren, und er sah, wie Emilia, Louis, Randall und sogar die kleine Lina, von der Ankunft des Reiters geweckt, verschlafen aus der Tür schauten. Seine Familie hatte weiß Gott Besseres verdient als die Armut, in die er sie geführt hatte. Emilia, nur im Nachthemd, barfuß und mit gelösten Haaren, kam ihm entgegen. Er liebte sie, das hatte er immer getan, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte; aber er liebte auch die schöne Wilde, Takiora, die in den Jahren des Buschkrieges sein bester Scout und seine Geliebte gewesen war und schon auf ihn warten würde.
Doch es war nicht der Gedanke an Takiora, nicht das herrliche Leben im Feld und auch nicht die Aussicht auf eine gute Bezahlung, die ihn seine Entscheidung treffen ließen: Es war der Kampf selbst, auf den Manu-Rau sich freute.
»Sagen Sie Colonel McDonnell, ich werde kommen!«
8.
Te Kooti lag an dem fremden Strand und sah die Eidechse auf dem sandigen Boden umherhuschen, auf dem er schlief. Schlief er? Seine Augen waren offen, das Tier Wirklichkeit. Eine gezackte schwarze Linie lief wie ein breiter Blitz über den glänzenden, gelbgrünen Leib, endete in der zuckenden Schwanzspitze. Langsam kroch die Eidechse auf seinen Kopf zu, auf seinen Mund, seine Augen. Te Kooti presste die Lippen zusammen, denn Whiro, der Geist alles Bösen, nahm, wie es hieß, gern die Gestalt einer Eidechse an, drang in den Körper der Menschen ein, die die alten Götter strafen wollten, und fraß von innen heraus ihre Lebensfunktionen auf.
Er glaubte nicht mehr an den alten Unsinn, er war getauft; aber die Angst blieb, und die Augen konnte er nicht abwenden. Die Eidechse stand jetzt dicht vor Te Kootis Gesicht, deutlich sah er den Glanz in den bösen kleinen Augen, und da war etwas Seltsames, Furchterregendes: Immer wenn sie den Kopf bewegte, bewegte sich auch Te Kootis Kopf, und nach einer Weile begriff er, dass er in einen Spiegel sah. Er selbst war die Eidechse.