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Major John W. Cannon aber schickte der Eclipse, die jetzt die riesige Sandbank vor Big Oak Tree passierte, einen gotteslästerlichen Fluch hinterher und sagte dann: »Sie muss einen Lotsen haben, der im Dunkeln sehen kann!«

10.

Im Nordwesten von Melbourne erstreckte sich noch im Jahr 1867 über viele Quadratmeilen eine eigenartige, wüste Landschaft, zehn-, zwölfmal größer als die Stadt selbst. Es waren, schier endlos und von Horizont zu Horizont reichend, die Reste primitiver menschlicher Behausungen, eingefallene Bretterverschläge, Fetzen von Zeltleinwand, rostiger Schrott, mumifizierter Abfall. Es waren Zehntausende kleiner Gruben, manchmal nur aufgekratzte, hastig ausgehobene Löcher, manchmal aber auch kleine Stollensysteme, die erstaunlich weit in die Erde reichten. Hier und da die Ruinen eines vor fünfzehn Jahren rasch aufgemauerten Vorratshauses, dessen hölzerne Dachkonstruktion längst eingefallen war.

Der große Goldrausch von 1852 hatte binnen weniger Monate mehr Menschen nach Australien gespült als acht Jahrzehnte Deportation und Auswanderung zusammengenommen. Aber so schnell, wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden, die Heuschrecken des Goldes, weitergezogen in rastloser, unruhiger Hoffnung, nach Südafrika, nach Neuseeland, und hatten der Provinz Victoria und der Stadt Melbourne nur diese große, offene Wunde hinterlassen.

Dem unbedarften Wanderer konnte es geschehen, dass hier unversehens der Boden unter seinen Füßen nachgab, weil die alten Stützbalken in der Tiefe moderten, brachen, und dann fand er sich drei, fünf, manchmal zehn Meter tief in der losen, nachbröckelnden Erde wieder. Blieb der Mann unverletzt, mochte er sich philosophisch fragen, wie in den niedrigen, schwarzen Gängen, die sich überall vor ihm öffneten wie in einem Insektennest, überhaupt Menschen gelebt hatten; brach er sich jedoch ein paar wichtigere Knochen und war er allein unterwegs, konnte er nur noch beten.

Immer wieder, seit mehr als zehn Jahren, verschwanden gelegentlich Menschen in dem riesigen Labyrinth der ehemaligen Goldfelder von Melbourne. Neugierige kleine Jungen, Betrunkene, abenteuerlustige Trottel, die auf ein liegen gebliebenes Körnchen Gold hofften, oder Pärchen, die nach einem Ort für ungestörte Zweisamkeit suchten. Selbstverständlich bildete das wüste Gelände auch eine natürliche Zuflucht für Mörder, Räuber, Diebe, entlaufene Sträflinge, Schuldner, die Hefe der jungen Kolonialgesellschaft, und wann immer ein größeres Verbrechen geschah, schrie die Stadt, schrien Politiker, Geschäftsleute, Bürger nach der Einebnung und Nutzbarmachung des unüberschaubaren Areals. Das aber erwies sich regelmäßig als zu teuer und wurde meist nach wenigen schwachen Versuchen, etwa vonseiten der Kirchengemeinden, wieder aufgegeben.

Das Problem löste sich erst in den 1870er-Jahren, als eine gewaltige neue Einwanderungswelle auch Melbourne traf; die Stadtväter beschlossen, jedem willigen, fleißigen Immigranten den Grund und Boden zu schenken, auf dem er aus eigener Kraft ein Haus bauen und bewohnen würde. So verschlang die Stadt allmählich das große vernarbte Geschwür an ihrem Rand und dem ihrer Gesetze. 1867 aber wagten sich die Ordnungshüter der Victorian Police nur ungern in diesen menschengemachten Dschungel. Diese Arbeit überließ man privaten Ermittlern.

11.

John Gowers jagte fast nur bei Nacht, weil sein außergewöhnliches Sehvermögen ihm dann einen Vorteil gegenüber seiner Beute verschaffte. Aber noch zwei andere Dinge machten die apokalyptische Wildnis der riesigen Geisterstadt für ihn durchschaubar: zum einen sein systematisches Gedächtnis, zum anderen die Tatsache, dass er sie nie bevölkert gesehen hatte. Keine Erinnerung an Gebäude, Straßen, Wege und die Orte, zu denen sie führten, stand zwischen ihm und der Wirklichkeit. Er bewegte sich ganz im Jetzt, fast wie ein Tier.

Wie immer, wenn er in das Labyrinth eindrang, hatte er den Tag über nicht geraucht. Das machte ihn nervös und gereizt, schärfte aber andererseits seine Sinne und erleichterte die Jagd. Die meisten der armen Teufel da draußen in den Ruinen rauchten, was ihnen in die Hände fiel, und so konnte er sie riechen, lange bevor er sie hörte oder sah. Joseph Clarke würde kaum eine Ausnahme bilden, obwohl seine Akte nicht verriet, ob er Raucher war. Noch immer hatten die Strafverfolgungsbehörden nicht begriffen, wie wichtig eine solche Information war, ja, seit die Häftlinge routinemäßig fotografiert wurden, verzichtete man sogar auf eine detaillierte Personenbeschreibung. Anscheinend glaubte die Polizei, dass ein einmal fotografiertes Gesicht sich nicht mehr verändern ließ.

Gowers witterte. Rechts, vorn, vielleicht achtzig Meter. Mindestens vier, vielleicht sechs, sonst hätte er sie nicht so stark riechen können. Leise stieg er auf einen kleinen Hügel festgetrampelten Abraums und sah in einer kleinen Mulde, vielleicht einem Graben, das schwache Glimmen eines Feuers. Er schlich näher heran, wich vorsichtig einigen eingesunkenen Schächten aus und zählte schließlich drei, fünf, sechs dunkle Gestalten, die ihre Gesichter der jämmerlichen Quelle nächtlicher Wärme zugekehrt hatten. Gowers lauschte.

Unwahrscheinlich, dass Joe Clarke unter ihnen war, denn der war erst drei Tage zuvor ausgebrochen und würde sich hüten, eine so große Gesellschaft unbekannter Landstreicher zu suchen. Es gab zu viele Spitzel, zu viele Leute, die für eine warme Mahlzeit Freunde und Brüder verraten hätten. Eine Flasche kreiste, und was immer sie rauchten – Tabak war es jedenfalls nicht. Vielleicht Tee, drei-, viermal aufgekocht, in den sie zur Erhöhung des Genusses trockenen Pferdemist gemischt hatten.

Ihr Gespräch war recht einsilbig; Flüche über die Kälte, ein kurzer Gedankenaustausch über die Mülleimer einer bestimmten Wohngegend, Prahlerei über exorbitante Betteleinnahmen in einer anderen. Einer der Männer schlief bereits, zusammengerollt wie eine Schlange, die Füße in den durchlöcherten Schuhen beinahe im Feuer. Sein Schnarchen regte die anderen jetzt zu einem Disput über die Frage an, ob man besser mit dem Gesicht oder dem Rücken zum Feuer schlafen sollte.

»Ein gesundes Kreuz ist wichtig«, sagte ein erfahrener alter Tramp. »Ihr grünen Jungs wisst das noch gar nicht zu schätzen, ein gesundes Kreuz. Deshalb immer mit dem Rücken ans Feuer, Jungs, immer mit dem Rücken!« Die Männer nickten, als hätte der Alte soeben den kategorischen Imperativ neu formuliert.

»Und mit dem Arsch«, pflichtete einer von ihnen ernsthaft bei. »Gibt nichts Besseres wie’nen warmen Arsch.«

»Doch«, sagte der Jüngste in der Runde und grinste breit. »Doch!«

»Was?«, fragte der andere so gereizt, als sei seine Autorität durch den bloßen Widerspruch infrage gestellt worden. »Was? Was gibt’s Besseres wie ’nen warmen Arsch?«

Der Junge gluckste vor Vergnügen, weil sein älterer Genosse ihm auf den Leim gegangen war. »Einen warmen Frauenarsch!« Gelächter antwortete ihm und gab ihm die Kühnheit oder auch nur das jämmerliche Verlangen, diesem wärmenden Gedanken noch ein paar Glanzlichter aufzustecken. »Hinten ’n Feuer und vorn ’nen warmen Frauenarsch!« Wieder lautes Gejohle.

Gowers schlich weiter. Das entsprach in etwa seiner Überlegung darüber, was Joseph Clarke suchen würde.

12.

Poll Hunleys Arbeitsplatz waren die Gräben rings um einen ehemaligen Speicher, dessen Mauern noch schwarz und angebrannt in den Nachthimmel ragten. Sie verteidigte dieses Revier mit Zähnen und Klauen, und dass das wörtlich zu nehmen war, konnten einige der anderen Huren mit tiefen Kratzspuren in ihren aufgedunsenen Gesichtern bezeugen. Der Platz war so gut, weil er an der Kreuzung gleich dreier ehemaliger Hauptwege lag und man sich in den Trümmern des Speichers bei Bedarf schnell und leicht verstecken konnte, wenn die Schmiere, also die Polizei, oder ein rabiater Freier einen dazu nötigte. Außerdem gab es da einen kleinen Keller, den man mit ein paar losen Balken leicht verkeilen und absperren konnte. Hier schlief sie, unter einem selbst gebastelten Drahtgestell vor den Ratten geschützt.